SPUCKEN
Aus der Tiefe des Rachens
Sie tun, was sonst verpönt ist: Fußballer rotzen nach Herzenslust auf den Rasen. Warum nur? Ein Erklärungsversuch von Broder-Jürgen Trede

Spucken

"Besamung des Spielfeldes": beim Einlaufen Pflicht für Profis
Foto Dirk Messner


Einmal richtig tief Luft holen, den glibberigen Schleim aus den Nasenflügeln saugen, im Rachen sammeln, den Mund spitzen und dann im hohen Bogen raus damit. Spucken und die dazugehörigen Geräusche gehören nicht unbedingt zum guten, wohl aber zum gewohnten Ton auf dem Fußballplatz. Einige wenden sich mit Ekel ab, für andere gehört die korrekte Rotztechnik genau wie der präzise Außenspannstoß zum selbstverständlichen Repertoire. Als hohe Schule gilt die einlöchrige Nasenfontäne mit manueller Unterstützung. Wer sie beherrscht, beweist höheres physikalisches Verständnis.

Verständnis für die Spuckerei dagegen geht den Hütern von Moral und Ordnung ab. Sie haben die Nase gestrichen voll. Unlängst meldete sich die Wohltätigkeitsorganisation „Keep Britain Tidy“ (Haltet Großbritannien sauber) medienwirksam zu Wort und appellierte an die Fußballer, sich endlich ihrer Vorbildfunktion bewusst zu werden. Die Unsitte des flegelhaften Ausspeiens werde schließlich von unzähligen jungen Leuten nachgeahmt. So verbreiteten sich Krankheiten, und den Gemeinden entstünden hohe Kosten, da häufig Kaugummis ausgespuckt würden, die dann nur schwer vom Straßenbelag zu entfernen seien.

Die Litanei ist nicht neu. Schon 2001 nutzte Willi Lemke die Plattform des evangelischen Kirchentags, um die „bescheuerte Manie der Spieler“ anzuprangern. Wahrscheinlich war Bremens Schulsenator die Nachhilfe entgangen, die der Sportpsychologe Heinz-Georg Rupp im Interview mit der „Tageszeitung“ gab. Einleuchtend erläuterte Rupp das Spucken als „symbolischen Akt der Befreiung von Blockaden“. Nicht von ungefähr sei es besonders häufig dann zu beobachten, wenn sich der Spieler als Versager fühle. Nach vergebenen Torchancen etwa dokumentiere der Spieler durchs Ausspucken: „Es geht weiter, ich hab’ mein Rohr wieder freigelegt, beim nächsten Mal klappt es besser.“ Ähnlich verhält es sich bei Ein- und Auswechslungen. Die erste Handlung eines neuen Spielers ist oft das Spucken, quasi eine Besamung des Spielfelds nach dem Motto: „Jetzt will ich das Spiel befruchten.“ Und derjenige, der hinausgeht, markiert gerne noch ein letztes Mal sein Revier, als wolle er sagen: „Niemals geht man so ganz. Etwas von mir bleibt hier.“

So sehr man vielleicht über Rupps Typologie des Absäftelns schmunzeln mag - sie trägt dazu bei, die Spuckproblematik differenziert zu betrachten. Genau das blieb bislang aus, wenn selbsternannte Sittenwächter Aus- und Anspucken über einen Kamm scheren und gleichermaßen verteufeln. Ein Spuckverbot, wie es in schöner Regelmäßigkeit eingefordert wird, geht an der Sache vorbei. Erstens ließe es sich nur schwer durchsetzen. Die Rasenrotzerei ist eine gewachsene Facette des Spiels und als solche längst ritualisiert. Zweitens würde ein Verbot den Sport seiner wenn auch nicht eleganten, so doch sehr wirksamen Art, mit aufkochenden Emotionen umzugehen, berauben.



Manuel Neuer spuckt

Den Handschuh griffiger machen: Manuel Neuer spuckt in die Hände
Foto Hoch Zwei


Das Regelwerk zumindest ist fein austariert: So lang die Leine gegenüber den Ausspuckern auch ist, so wenig Spielraum lässt es, wenn sich der Speichelfluss gegen Personen richtet. Anspucken gilt als ultimative Beleidigung, als seelische Körperverletzung, als abgeschmackteste Form des versteckten Fouls, weil es auf die Menschenwürde im gegnerischen Trikot abzielt. „Etwas Schlimmeres als Spucken gibt es nicht im Fußball“, erklärt stellvertretend für nahezu alle Akteure Volker Roth, langjähriger Vorsitzender der Uefa-Schiedsrichterkommission. Spuckattacken werden gnadenlos auch nachträglich und unter Zuhilfenahme des Videobeweises geahndet. Besonders wenn es gegen die eigene Zunft geht, verstehen die Regelhüter keinen Spaß. Burkina Fasos Verteidiger Amadou Coulibaly etwa wurde für 18 Monate gesperrt, nachdem er seine Meinung über einen Elfmeterpfiff gegen seine Mannschaft allzu feucht kundgetan hatte.

Interpretationsmöglichkeiten gibt es kaum. „Im Gegensatz zu manch anderen Gesten ist das Anspucken eindeutig und international. Es wird sofort als schlimme Beleidigung aufgefasst“, weiß Prof. Dr. Bernd Strauß. Der Sportwissenschaftler und Psychologe von der Uni Münster versucht, auch die Seite des „Täters“ zu sehen. „Spuckattacken sind häufig die Reaktion auf üble Provokationen. Natürlich wissen die Spieler, dass die Kameras alles aufzeichnen. Den meisten tut es hinterher ja auch furchtbar Leid. Doch im Moment des Spuckens oder Rotzens befinden sie sich in der Regel in einem Zustand hochgradiger Erregung. Da läuft ein Film ab, der nicht mehr steuerbar ist.“

Manchmal dauert die Irrationalität noch lange nach Schlusspfiff an. Es scheint, als hätten die Spucker mit ihren Drüsensekreten gleich auch einen Teil ihres Denkvermögens mit auf die Reise geschickt. So leugnete der Schweizer Alexander Frei seine feuchte Aussprache gegen Englands Steven Gerrard bei der EM 2004 trotz eindeutiger TV-Bilder hartnäckig und rotzfrech mit den Worten: „Ich habe ihn nicht bespuckt, ich habe ihn als Hure beschimpft.“ Ähnlich virtuos die Rechtfertigung des Senegalesen El-Hadji Diouf, dem ein elfjähriger Fan aus Middlesbrough „zufällig ins Spuckfeld lief“. Nachdem sich auch Anhänger von West Ham United und Celtic Glasgow in dessen reichweitenstarkes Sprühareal verirrten, diagnostizierte die britische Presse beim Stürmer der Bolton Wanderers ein „Aufmerksamkeitsdefizit und Symptome des Tourette-Syndroms“.

Neben Diouf gilt der Serbe Sinisa Mihailovic als notorischer Wiederholungstäter und größter Rotzbengel des internationalen Fußballs. Unvergessen, wie er bei der WM 1998 ungestraft seinem Gegenspieler Jens Jeremies eine veritable Schnoddersalve in den offenen Mund pfefferte. Solche Spreuz-Attacken schaffen mächtige Bilder, die sich im kollektiven Fußballgedächtnis festkrallen. Sie kleben allerdings auch – ausgleichende Gerechtigkeit – zäh und dauerhaft an ihren Absendern. So wird Frank Rijkaard trotz aller Verdienste immer das holländische Lama bleiben.

Solche selbst produzierten Flecken lassen sich kaum wieder verwischen. Stuttgarts Thomas Hitzsperger, Anfang der Saison im Ligapokal von Schalkes Lincoln eingenässt, brachte es auf den Punkt: „Nach dieser Szene verliere ich jeden Respekt vor dem Menschen Lincoln.“ Ähnlich denken viele über Italiens Mittelfeldstar Francesco Totti seit der bei der EM 2004 gleich dreimal seinem dänischen Kontrahenten Christian Poulsen ins Gesicht gespeichelt hatte. Keine 24 Stunden später tauchte im Internet ein Spiel mit dem Titel „Sputa con Totti“ – Spucken mit Totti – auf.

Manchmal aber macht das Spucken den Gegner nur stärker. Als sich Johan Cruyff im Trikot von Ajax Amsterdam im freundschaftlichen Abschiedsspiel mit Bayern München messen wollte, erlebten 60.000 Fans eine Demontage. Bayerns Paul Breitner erinnert sich: „Als wir zum Aufwärmen auf den Platz kamen, beschimpfte man uns von der Tribüne als ,Nazi-Schweine’. Auf dem Weg in die Kabine wurden wir vom Publikum bespuckt.“ Da sagte Breitner zu seinen Mitspielern: „Herrschaften. Wir werden heute Geschichte schreiben. Ich will, dass ihr euch keine 30, keine 60, sondern 90 Minuten die Beine aus dem Leib rennt.“ Am Ende heiß es 8:0 für die Münchner.

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