FUNDSTÜCK
Training auf der Buckelpiste
Auf einem Ascheplatz in Hamburg fing alles an: Heinrich Kokartis, der mit Werder Bremen Pokalsieger wurde, lernte auf dem „Reinmüller“, was Strafraumbeherrschung ist. Von Uwe Wetzner

Heinrich Kokartis

Sein größtes Spiel: Heinrich Kokartis im Werder-Tor beim Europapokalspiel bei Atlético Madrid Foto Archiv Wetzner

Der „Reinmüller“, nur einen Abschlag vom Eimsbütteler Marktplatz entfernt, ist einer der Klassiker der harten Schule des Fußballlebens. Im Sommer zieht die rote Asche manchmal in dünnen Schwaden um die unmittelbar an den Sportplatz grenzenden Wohnblocks, nur die Leichtsinnigen hängen ihre Wäsche dann zum Trocknen auf den Balkon. Im Winter, wenn sich haufenweise Pfützen gebildet haben, die nach und nach zufrieren, wird er zu einer abwechselnd eisglatten oder morastigen Buckelpiste. Die Mannschaften, die dann gern zu den Heimspielen des Hamburg-Eimsbütteler Ballspiel-Club (HEBC) auf dem Professor-Reinmüller-Platz anreisen, sind an den Fingern einer Hand abzuzählen.

Hier ist Heini Kokartis mit den Werten der Fußball-Gemeinschaft bekannt gemacht worden und in sie hineingewachsen. Vielleicht sind hier auch die Wurzeln seiner herausragenden Strafraumbeherrschung gewachsen. Besser, man pflückt den schweren Lederball aus der Luft herunter, als sich auf der teilweise messerscharfen roten Asche mit um sich tretenden Feldspielerfüßen um die Kugel zu balgen, das schont die Klamotten und Subcutis, Dermis und Epidermis, die drei Hautschichten.

Im fortgeschrittenen Jugendfußballalter von zehn Jahren hatte sich Kokartis den „Knaben“, wie sie damals in Fußballdeutsch hießen, des Hamburg-Eimsbütteler Ballspiel-Club angeschlossen. Schon 1953 gehörte der 19jährige zur Mannschaft, die in die Verbandsliga aufstieg. 1954 hatte der HEBC auf der Zielgeraden den punktgleichen Eidelstedter SV noch mit dem besseren Torverhältnis abgefangen. Ein 10:0 gegen den Tabellenfünften Holsatia Elmshorn machte allerdings den HFV hellhörig. Er erkannte den Eimsbüttelern den Titel ab, weil nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei, nichts wurde es mit dem Aufstieg in die Amateurliga, Hamburgs damals höchster Spielklasse. Der gelang dann aber im Sommer 1957, als „Häbz“ sich in einem Entscheidungsspiel gegen den punktgleichen Tabellenzweiten Komet Blankenese vor 15.000 Zuschauern am Millerntor mit 4:1 durchsetzte: Kokartis, Wiechers, Dietzsch, Karitza, Marquardt, Schümann, Busch, Bischoff, Pollack, Braunschweig und Cohrs ließen ihre Anhänger außer Rand und Band geraten. Hunderte zogen anschließend in einem „spontanen Jubelmarsch“, so die HEBC-Chronik, „vom Millerntor-Sportplatz durch die Straßen von Eimsbüttel.“ Die von verschreckten Anwohnern herbeigerufenen „Peterwagen-Besatzungen“ seine „lächelnd“ wieder „davongebraust“. Wie locker die Polizei doch mal drauf war.

Mit dem HEBC hatte Kokartis durch den Aufstieg das sportliche Ende der Fahnenstange erreicht, mehr ging am Reinmüller nicht. Da fügte es sich, dass Bergedorf 85 im Sommer 1958 in die Oberliga aufgestiegen war. Kokartis verband seit Jahren bereits eine Freundschaft mit Ewald Künn, dem Kapitän der Bergedorfer. Beide kannten sich aus dem gemeinsamen Training der HFV-Amateurauswahl, dort hatte Künn das Feld für einen möglichen Wechsel bereitet. „Beim HEBC haben auch alle diesen Schritt verstanden und unterstützt“, so Künn. „Als wir aufgestiegen waren, habe ich ihm gesagt, nun bist du aber mit dem Wechsel an der Reihe.“

Sportlich hatte Kokartis sich durch den Aufstieg in die norddeutsche Eliteliga zweifellos verbessert, was den Platz anbelangte, fand er vertraute Bedingungen vor. Bergedorf 85 war vom Norddeutschen Fußball-Verband eine vorübergehende Ausnahmegenehmigung erteilt worden, seine Heimspiele im Billtal-Stadion austragen zu dürfen – auf Grand.

Kokartis focht das nicht im Geringsten an. „Der hat sich nicht geschont“, hebt „Walli“ Künn ein charakteristisches Merkmal der Spielweise seines ehemaligen Mitspielers hervor. Wie auch, bei dem Untergrund. Aber Ängstlichkeit oder Vorsicht waren dem Draufgänger völlig fremd. „Flanken, Ecken oder Freistöße, das waren seine Welt. Wenn sich ihm da einer seiner Mitspieler auf weniger als zwei Meter näherte, dann gab es einen Stoß von Heini“, erinnert sich Künn wahrscheinlich aus leidvoller Erfahrung. „Im Strafraum habt ihr nichts zu suchen“, habe Kokartis seinen abwehrbereiten Mannschaftskameraden ständig eingeschärft. Der Übergang vom Draufgängertum zur Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit war fließend. Es sollte Kokartis einige Jahre später buchstäblich fast den Kopf kosten.

Die „Elstern“ entfachten mit ihrem Sprung ins norddeutsche Fußball-Oberhaus eine ungeheure Begeisterung im Südosten Hamburgs. Mehrere tausend Zuschauer bei jedem Heimspiel der Premierensaison, manchmal sogar fünfstellige Zahlen, teilweise begleiteten mehrere tausend „Schlachtenbummlern“ ihre Mannschaft zu Auswärtsspielen. Das Billtalstadion war nicht nur wegen seines Untergrunds, sondern auch aufgrund der rustikalen Spielweise großer Teile der Heimmannschaft gefürchtet.

Kokartis lebte sich schnell ein, die Klasse des Neu-Bergedorfer Keepers sprach sich ebenso schnell herum, er bestritt sämtliche 30 Oberligabegegnungen. Am 22. Februar 1959 trafen die Bergedorfer auf Werder Bremen. „Was Schröder, Schütz und Hänel auch versuchten, es war insbesondere gegen den Hexenmeister Kokartis vergeblich. Einige Male kamen ihm die Torlatte und der Pfosten zu Hilfe.20 Eckbälle erzielte Werder (Bergedorf nur zwei), zwanzigmal bildete sich eine Spielertraube vor dem Bergedorfer Tor, doch stets fand sich eine Lücke, um zu klären, die kritische Situation zu bereinigen“, hielt der Korrespondent im Hamburger Abendblatt einen der denkwürdigen Auftritte Kokartis` für die Nachwelt fest.

Bei Werders Trainer Willy „Fischken“ Multhaup hatte Kokartis nachhaltig Eindruck hinterlassen. Im Sommer 1959 holte er den Keeper an die Weser, dort avancierte er zum unumstrittenen Stammtorhüter in insgesamt 77 Oberligaspielen. 1961 und 1962 erreichte Werder mit Kokartis hinter dem HSV die norddeutsche Vizemeisterschaft und wurde 1961 Deutscher Pokalsieger.

Einsätze für Werner Lamberz, Werders zweiten Mann zwischen den eckigen Holzpfosten, gab es nur, wenn Kokartis Opfer der eigenen Spielweise geworden war: So musste der gelernte Fliesenleger nach einer in einem Freundschaftsspiel gegen die ungarische Mannschaft von Dosza Ujpest erlittenen Gehirnschütterung 1961 einige Zeit pausieren, im Spätsommer 1962 kugelte er sich einen Arm aus.

Die Einführung der Bundesliga sollte Kokartis als Aktiver nicht mehr erleben: Am 7. Janaur 1963 prallte er auf dem vereisten Donnerschwee im Oberligaduell beim VfB Oldenburg mit dem Oldenburger Siegfried Presche zusammen und zog sich dabei einen dreifachen Schädelbruch zu. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt und monatelanger Ungewissheit folgte dann die niederschmetternde Diagnose, dass er nie mehr würde Fußball spielen können.

In Bremen war dies der Auftakt zu einer beispiellosen Serie schwerer Verletzungen, die sich 1963 nacheinander sechs Torhüter zuzogen: Kokartis-Nachfolger Günter Bernard riss sich in seinem ersten Testspiel den Meniskus, Ersatzkeeper Lambertz hielt mit einem Brustbeinanriss ständig fit gespritzt nur wenige Spiele durch. Der nun in der Liga aushelfende Amateurtorwart Volker Boelsen brach sich kurz nach seinem Debüt den Arm, der zweite Amateurkeeper Erwin Peters verletzte sich nur einen Monat darauf schwer, der dritte Wolfgang Herrmann stand noch nicht einmal die erste Partie verletzungsfrei durch. Werder blieb nichts anderes übrig, als seinen Torwart-Veteran aus der Vor-Kokartis-Zeit, den 38jährigen Dragomir Ilic, zu reaktivieren.

Ganz vom Lederball lassen konnte Kokartis nach überstandener schwerer Verletzung nicht. Als Trainer hat er später in Ochsenwerder, Glinde, Schwarzenbek und beim SC Wacker 04 gewirkt. „Für mich war Heini Kokartis der beste Torwart, mit dem ich je zusammengespielt habe“, sagt Ewald Künn. „Sauber, korrekt und zuverlässig.“ Sein Mannschaftskamerad aus Bergedorfer Tagen ist am 4. August an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.

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