PORTRÄT
Mann ohne Muskeln
Thomas Müller ist, wie er ist. Er redet, wie er redet. Und er spielt, wie er spielt. Aus der Regionalliga zum WM-Torschützenkönig in nur einem Jahr – selten hat jemand eine derart rasante Karriere hingelegt. Von Oliver Lück. Ein Auszug aus dem Buch "Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg".

 

Thomas MüllerWM-Tor gegen England: Thomas Müller hebt ab
Foto Pixathlon

 

 

 

Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg

Das Porträt von Thomas Müller stammt aus dem Buch „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg" vom Matthias Greulich (Hg.) und Sven Simon. 176 Seiten, 19,90 Euro, Copress Verlag. ISBN 978-3-7679-1048-5

Müller ist die Nummer Eins in Deutschland, daher könnte man ihn leicht verwechseln. Es gibt da zum Beispiel einen Komponisten, einen Physiker, einen Maler, einen Wintersportler, einen Komiker oder noch zwei Maler und noch drei Musiker. Und das ist nur eine sehr kleine Auswahl der Thomas 
Müller aus Deutschland. Es gibt allerdings nur einen Fußballprofi, der so heißt, und den wird man trotz seines geläufigen Namens nie wieder verwechseln.

Thomas Müller könnte auch Meyer, Schmidt oder Schneider heißen und er wäre genauso beliebt. Denn nicht bloß sein Name vermittelt einem das Gefühl, einen ganz normalen jungen Mann vor sich zu haben, der sagt, was er denkt, der sich nicht verstellt. Interviews mit Thomas Müller können daher ziemlich unterhaltsam sein, da er Dinge sagt, die sich sonst kaum ein Spieler – aus Angst, in der Öffentlichkeit dumm da zu stehen – zu sagen traut. Müller sagt zum Beispiel: »Wenn ich anders reden würde, hätte ich auf der Schauspielschule meine Karriere gemacht. Aber ich kann leider nur Fußballspielen und deshalb sind die Interviews so, wie sie sind.« Oder er sagt: »Ich müsste mir meine Probleme schon selbst machen, damit ich welche hätte.« So viel Natürlichkeit kannte man bislang nicht im deutschen Fußball. Thomas Müller ist schon jetzt eine der Symbolfiguren der
Nationalmannschaft, er repräsentiert das neue, junge Image, das der DFB so lange gesucht hat.

Die Profikarriere des Thomas Müller hatte mit einer Frage begonnen: »Wer ist Müller?«, wunderte sich ganz Fußballdeutschland, als er 2009 plötzlich im Kader des FC Bayern auftauchte und seine ersten Tore in Champions League und Bundesliga schoss. Im Fußball geht immer alles schneller als anderswo, für Müller ging alles noch viel schneller. Vom TSV Pähl, einem bayerischen Dorfverein am Ammersee, war er in die D-Jugend des FC Bayern gewechselt und hatte sich beharrlich bis in das Team der Amateure hochgespielt. Was dann passiert ist, passiert normalerweise nicht: in nur einem Jahr aus der Regionalliga in die Weltspitze, zum Nationalspieler und zum WM-Torschützenkönig. »Manchmal geht es mir selbst ein bisschen zu schnell«, musste Thomas Müller während der Weltmeisterschaft in Südafrika zugeben. »Aber ich muss ja nicht absichtlich schlecht spielen.«

Die WM 2006 verfolgte der damals 16-Jährige noch in seinem Heimatdorf, auf Grillpartys mit seinen Kumpels. Er gewann die Tipprunde, 150 Euro. »Für mich wahnsinnig viel Geld damals«, erzählt er. Als 20-Jähriger stand er nach dem dritten Platz bei der WM mit fünf Treffern da, drei weitere Tore
hatte er zudem vorbereitet und auch noch die Auszeichnung für den besten Nachwuchsspieler des Turniers erhalten. Kurz zuvor war er mit den Bayern Meister und Pokalsieger geworden, und die Champions League hätte er auch noch fast gewonnen. »Bei Müller wundere ich mich immer wieder, mit welcher Frechheit und Lockerheit er spielt«, musste selbst der sonst so lässige Bundestrainer Joachim Löw gestehen.

Er ist der 16. Müller, der für den DFB Länderspiele macht. Oft wird er mit dem berühmtesten deutschen Müller verglichen, weil dieser – der Gerd – auch Fußballer war, auch beim FC Bayern und in der Nationalelf stürmte und auch Torschützenkönig bei einer Weltmeisterschaft wurde. Sonst gibt es keine Gemeinsamkeiten. Aber weitere Vergleiche: Der deutsche Messi heißt Müller. Das heißt, es gibt keinen anderen auf der Welt, der so Fußball spielt wie er. Er hat einen eigenen Stil. »Ich habe selten einen so komischen Spieler wie mich selbst gesehen«, sagt Müller über Müller. »Aber ich habe Erfolg, und Spaß macht es auch.« Er hat eine eigenwillige Art zu laufen, manchmal sieht es fast unbeholfen aus, wenn er den Ball weiterleitet oder zu Dribblings ansetzt und dabei etwas ungelenk mit den Armen rudert. Es liegt wohl an seinem Körperbau, an seinen dünnen Beinen, dem schmächtigen Oberkörper, sehnig, aber zäh. Noch nie war er länger als ein oder zwei Wochen verletzt. »Wo keine Muskeln sind, kann auch nichts weh tun«, sagt er. Es ist seine Selbstverständlichkeit, mit Spaß und nicht mit Furcht zu spielen, die ihn auszeichnet.

Hinzu kommt seine Vielseitigkeit. Die »Süddeutsche Zeitung« nannte ihn bereits »den Multifunktionsmüller «, da er auf der rechten wie auf der linken offensiven Mittelfeldseite, aber auch zentral hinter den Spitzen oder selber als Angreifer eingesetzt werden kann. »Ich bin ein Offensivallrounder«, sagt Müller selbst. In der Nationalelf besetzt er den rechten Flügel und taucht meist da auf, wo es niemand erwartet. »Ich bin ein Raumdeuter«, hat er in einem Interview auch mal erzählt und meinte sein ausgeprägtes Orientierungsvermögen. Er ist meist schon da, wo der Ball dann hinfällt. »Das ist ein Instinkt, ein Gefühl für die Räume«. Mit hohem Tempo läuft er in diese Räume, in den Rücken der gegnerischen Abwehr, immer Richtung Tor. »Ich möchte mich festbeißen, auf ganz hohem Niveau«, sagt Müller über seine Zukunft. »Ich möchte in zehn Jahren sagen, ich habe immer ganz oben gespielt und mein Körper hat es ausgehalten, und mein Kopf zum Glück auch.«

Es gab großartige Szenen zu sehen von Thomas Müller bei der WM 2010 – seine Tore, seine Pässe, seinen Jubel. Der vielleicht schönste Moment aber war ein kleiner am Rande. Gerade hatte Müller mit zwei Treffern und einer Torvorlage entscheidend dazu beigetragen, dass England im Achtelfinale 4:1
besiegt worden war, da beantwortete er bereits in aller Seelenruhe die Fragen der Journalisten. Die schönste stellte er allerdings selber: »Darf ich noch jemanden grüßen?«, fragte er am Ende eines Interviews. Dann winkte er in die Kamera und sagte: »So, ich wollte nur einmal meine beiden Omas und meinen Opa grüßen, das ist schon lange mal überfällig.« Auch eine legendäre WM-Szene, die man nie mehr vergisst. 

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