INTERVIEW
„Ich weiß gar nicht, ob ich Spiele noch anders sehen kann oder will“
Mit Spielverlagerung.de, einem Blog über Taktik im Fußball, erreicht er über 10.000 Klicks am Tag: Tobias Escher, 25, ist Gründungsmitglied des Blogs, der mit der Sportredaktion des ZDF kooperiert. Interview Pia Pelka.

 

Tobias Escher
Mitbegründer von spielverlagerung.de: Tobias Escher aus Hamburg. Foto: Privat

 

RUND: Wie ist es zu dem Projekt Spielverlagerung gekommen?
Tobias Escher: Ich hatte damals meinen eigenen Taktikblog „taktikguru.net“ und bin dann auf weitere Blogger gestoßen, die sich ebenfalls mit Fußballtaktik beschäftigten. Daraus entstand die Idee, sich zu vereinen und ein gemeinsames Projekt zu starten.

RUND: Wann geschah das und mit wem?
Tobias Escher: Im Juni 2011 schlossen wir uns letztendlich zusammen. Zuvor hatte ich Kontakt zu den anderen Bloggern aufgenommen. Wir waren schnell auf einer Wellenlänge: Spielverlagerung war geboren.

RUND: Woher kannten Sie die anderen Autoren?
Tobias Escher: Wir haben uns über das Internet kennengelernt und standen über unsere Blogs in regen Kontakt.

RUND: Was haben Sie vor Spielverlagerung gemacht?
Tobias Escher: In Hannover habe ich die Fächer Sport und Englisch studiert.

RUND: Waren Sie vorher im traditionellen journalistischen Bereich tätig?
Ich habe im Rahmen meines Studiums ein Redaktionspraktikum bei der ZEIT absolviert.

RUND: Gab es Vorbilder für diesen Blog?
Tobias Escher: Michael Cox war mit seinem englischsprachigen Blog zonalmarking.net der erste Taktikblogger. Neben den Büchern von Jonathan Wilson und Christoph Biermann war er wohl der größte Einfluss.

RUND: Was für Kompetenzen sind nötig, um diesen Blog zu führen?
Tobias Escher: Vor allem Hingabe. Während andere Kommilitonen den Freitagabend in der Stadt verbracht haben, saß ich zuhause und habe St. Pauli gegen Schalke analysiert – für zehn Leser. Vor allem am Anfang war es ein leidenschaftliches Hobby von mir, das meine Liebe zum Fußball und zum Schreiben zusammengebracht hat.

RUND: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedern?
Tobias Escher: Wir kommunizieren hauptsächlich per soziale Netzwerk wie Facebook oder ICQ oder über Skype. Die Terminplanung läuft über Doodle, ein Online-Terminplanungsprogramm.

RUND: Wie laufen die Entscheidungsprozesse ab?
Tobias Escher: So viele Entscheidungen gibt es gar nicht zu treffen. Jeder Autor ist bei seinen Artikeln frei. Wenn wir Grundsatzentscheidungen treffen müssen, diskutieren wir darüber. In diesem Aspekt sind wir eher eine Kommune denn ein hierarchisches Unternehmen.

RUND: Wie ist Ihre Verbindung zum Fußball?
Tobias Escher: Hauptsächlich als Zuschauer. Ich habe meine ganze Jugend im Verein gespielt, jedoch nie besonders hoch. Mittlerweile sitze ich öfters auf dem Sofa, als dass ich auf dem Platz stehe.

RUND: In welcher Art und Weise haben Sie sich vor Spielverlagerung mit Fußball beschäftigt?
Tobias Escher: Wie jeder andere auch: Ich habe ab und an Fußballspiele geschaut und nicht weiter auf die Taktik geachtet. Später habe ich mich dank verschiedener Bücher angefangen, mich für das Thema Taktik zu interessieren.

RUND: Was haben Sie gelesen?
Tobias Escher: „Revolutionen auf dem Rasen“ von Jonathan Wilson war wohl der größte Antrieb. Er hat die Geschichte der Fußballtaktik zusammengefasst. Ich habe mir gedacht: Mensch, so kompliziert ist das gar nicht, achtest du mal drauf! Seitdem habe ich mich mit Büchern zur Trainingslehre und dem Internet in das Thema Taktik vertieft.

RUND: Wie erfolgte die Realisierung des Blogs?
Tobias Escher: Erst mal haben wir uns in einem Forum zusammengesetzt und beschnuppert. Uns war schnell klar, dass wir einen einfachen Wordpress-Blog wollen und haben uns ein Design ausgesucht. Am Ende ging es ganz schnell; eine Seite zu erstellen ist heutzutage nicht schwer.

RUND: Welche Schwierigkeiten gab es bei der Umsetzung?
Tobias Escher: Die größte Schwierigkeit war seltsamerweise der Name. Wir haben sehr lange gebraucht, bis wir auf die Idee Spielverlagerung kamen. Der Rest ging relativ flott von der Hand.

RUND: Finden Sie, dass eine analytische Berichterstattung in anderen Medien fehlt?
Tobias Escher: Jein. Ich kann verstehen, dass über Spiele, die die breite Masse sieht, so berichtet wird, wie es aktuell der Fall ist. Gerade bei Spielen der Nationalmannschaft gucken zehn Millionen Leute zu, viele beschäftigen sich ansonsten wenig oder gar nicht mit Fußball. Dort braucht man nicht damit anzufangen, verschiedene Pressingvarianten abzuwägen und über Raumverknappung und Überladungen zu sprechen. Aber sind wir ehrlich: Es läuft viel Fußball im Fernsehen, der nur von Fans angeschaut wird. Denen braucht man nicht zu sagen, dass Bayern München Rekordsieger ist. Da könnte man tiefer ins Detail gehen.

RUND: Wie kann man den normalen Fußballfan für diese Art von Journalismus begeistern?
Tobias Escher: Wenn man einen Ansatz findet, dem Leser die Materie anschaulich nahezubringen, entwickelt er schnell ein eigenes Verständnis und will immer mehr wissen. Zudem merkt man beim Fußballgucken schnell, dass nicht immer alles so ist wie es scheint – es ist nämlich nicht bei jedem Tor ein einziger Abwehrspieler Schuld. Erkennt man solche gruppentaktischen Bewegungen, kann man das Spiel nochmal in einer ganz anderen Dimension wahrnehmen.

RUND: Wie kam es zu der Kooperation mit dem ZDF?
Tobias Escher: Das ZDF lud uns hinter die Kulissen des „Aktuelle Sportstudios“ ein. Kurz darauf fragten sie, ob wir nicht Lust hätten, die Champions League-Spiele zu begleiten.

RUND: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit dem ZDF?
Tobias Escher: Das ZDF zeigte in der vergangenen Saison jeweils das Spiel am Mittwochabend. Wir haben ihnen eine Vorschau, die einen Tag vor dem Spiel erschien, und eine Kurzanalyse zum Mittag nach dem Spiel geliefert. Herzstück der Zusammenarbeit war jedoch die Live-Analyse auf zdfsport.de.

RUND: Wie läuft das ab?
Tobias Escher: Wir haben im Zweierteam die Geschehnisse auf dem Feld in Echtzeit analysiert und mit Grafiken aufbereitet. Diese Inhalte wurden den Zuschauern unter besagter Homepage im Ticker-Format präsentiert.

RUND: Wie wird das in Brasilien?
Tobias Escher: Viel Arbeit. (lacht) Im Ernst: Wir werden die Spiele auf alle Fälle analysieren, ob für  das ZDF steht noch offen.

RUND: Wie ist die Zusammenarbeit mit „11 Freunde“?
Tobias Escher: Nett und unkompliziert. Die Redaktion von „11Freunde.de“ informiert uns zu Beginn der Woche, für welches Spiel des kommenden Wochenendes sie gerne eine Analyse von uns hätten. Diese liefern wir ihnen dann. Der Umfang ist jedoch nicht so groß wie auf Spielverlagerung, die Artikel für „11 Freunde“ sind circa 5.000 Zeichen lang.

RUND: Mit wem arbeiten sie noch zusammen?
Tobias Escher: Wir liefern regelmäßig Artikel an „BettingExpert“. Der Wettanbieter möchte gerne taktische Vorschauen zu bestimmten Spielen veröffentlichen, in der Wettszene einzigartig. Zudem arbeiten wir noch mit den „Ruhrnachrichten“ und „Reviersport“ zusammen, dabei geht es meistens um Schalke und Dortmund.

RUND: Sichern diese Kooperationen das finanzielle Überleben von Spielverlagerung?
Tobias Escher: Wir sind froh, dass wir mit Spielverlagerung überhaupt Geld verdienen können. Als wir anfingen, hatten wir eine Handvoll Leser. Aber ich bin ehrlich: Für einen Artikel auf einer fremden Seite werden wir besser bezahlt, als wenn wir den Artikel auf unsere eigene Seite stellen würden.

RUND: Leben Sie von Spielverlagerung?
Tobias Escher: Ich schreibe gerade meine Abschlussarbeit und halte mich mit Spielverlagerung und meinen Einnahmen als freier Autor über Wasser.

RUND: Streben Sie das an?
Tobias Escher: Es wäre natürlich toll, aber es ist vermessen zu glauben, dass man in Deutschland alleine durch Bloggen seinen Lebensunterhalt verdienen kann, gerade in so einer Nische. Nur Wenigen ist das vergönnt.

RUND: Wie viele User pro Tag besuchen Spielverlagerung?
Tobias Escher: Wir erreichen an guten Tagen 10.000 Menschen.

RUND: Was wissen Sie über die User?
Tobias Escher: Ich nehme an, die meisten sind Fußballfans. (lacht) Es sind größtenteils Männer zwischen 14 und 49. Keine große Überraschung.

RUND: Glauben Sie, dass Sie die Leser dazu bringen können, für Ihren Online-Journalismus zu zahlen?
Tobias Escher: Das ist wohl die Frage im Journalismus schlechthin. Ich glaube, dass man Produkte entwickeln muss, die dem Leser einen Mehrwert zum tagesaktuellen Geschehen bietet. Dafür sind sie dann auch bereit zu zahlen.

RUND: Welche Preise halten Sie für angemessen?
Tobias Escher: Das kommt natürlich ganz auf das Produkt an. Wir vertreiben unser Magazin als E-Book derzeit für 3,95 Euro, was ein günstiger Preis ist, wenn man bedenkt, dass es werbefrei ist. Wenn wir es in Zukunft schaffen wollen, auch ein gedrucktes Werk auf den Markt zu bringen, müsste man den Preis wohl drastisch erhöhen – und werbefrei wäre es dann auch nicht mehr.

RUND: Inwiefern unterscheiden sich die Inhalte von „Ballnah“, ihrem regelmäßig erscheinendem Magazin, von denen auf dem Blog?
Tobias Escher: 

Die Grundidee war, Artikel mit einem hohen Aufwand machen zu können. Beispielsweise die Recherchen zum 20-seitigen Jupp-Heynckes-Porträt haben meinem Co-Autor René mehrere Tage gekostet. Wenn wir das einfach im Blog veröffentlichen würden, stünde der Ertrag in keinerlei Relation zur Arbeit. Für solche Artikel haben wir das Heft geschaffen.

RUND: Gibt es Reaktionen von Profi-Fußballern auf den Blog?
Tobias Escher: Ich weiß von manchen Trainern, dass sie uns zumindest kennen, aber das war es auch schon. Und Hans Sarpei hat uns schon mal kurz bei Twitter erwähnt.

RUND: Bestätigt „Spielverlagerung“ die These, dass Blogger nach und nach den traditionellen Journalismus ablösen?
Tobias Escher: Nein, dazu sind die Unterschiede in den Reichweiten zu groß. Es ist aber auffällig, dass Innovationen und Trends in den vergangenen Jahren zunehmen aus Blogs den Weg in die klassischen Medienhäuser gefunden haben. Taktikanalysen gibt es mittlerweile auch bei „Spiegel Online“, der „Süddeutschen“ und im „kicker“.

RUND: Haben Sie einen Lieblingsverein?
Tobias Escher: Ich verteile meine Sympathien nach Lust und Laune. Derzeit gefällt mir der SC Freiburg sehr gut.

RUND: Ist es Ihnen noch möglich, Spiele ganz normal zu gucken? Oder ist es unmöglich, den analytischen Blick abzulegen?
Tobias Escher: In der Regel schaue ich auch Spiele, die ich nicht analysieren muss, mit meinem analytischen Blick. Es ist in der Tat sehr schwer, diese Sichtweise zu ändern, für mich bedeutet sie aber auch keine Einbuße im Erleben von Fußballspielen. Im Gegenteil: Ich weiß gar nicht, ob ich Spiele noch anders sehen kann oder will.

 

 

Zurück  |