TAKTIK
Elf gegen Null
Bruno Labbadia, einziger Angreifer mit mehr als 100 Toren in 1. und 2. Bundesliga, macht in seiner Coachingzone noch heute unwillkürlich Kopfballbewegungen, wenn das Leder in Richtung gegnerischer Strafraum segelt. Matthias Greulich und Elmar Neveling haben ihn für das Buch Fußball-Taktik: Die Anatomie des modernen Spiels“getroffen. Ein Auszug aus dem Kapitel über Offensivfußball.

 Bruno LabbadiaJubel an der Seitenlinie: Bruno Labbadia. Foto Pixathlon

 

Greulich, Matthias; Neveling, Elmar Fußball-Taktik
Matthias Greulich und Elmar Neveling: „Fußball-Taktik: Die Anatomie des modernen Spiels“,
2. aktualisierte Neuauflage 2020, 224 Seiten, Copress Sport, ISBN: 978-3-7679-1262-5, 19,90 Euro

 

 

Ein Januartag, an dem es in Hamburg nicht richtig hell wird. Bruno Labbadia ist am Morgen bei drei Grad schon um die Außenalster gelaufen, jetzt sitzt er in einem Café in St. Georg. Dort entdeckt ihn der Verkäufer der Obdachlosenzeitung „Hinz und Kunzt“, der auf dem Weg nach draußen gerade wieder seine Handschuhe anzieht. Labbadia umarmt den Mann, beide strahlen. Das Stadtviertel direkt neben dem Hamburger Hauptbahnhof ist eines der buntesten der Stadt und dennoch im Grunde ein Dorf geblieben, in dem man sich kennt. Der ehemalige HSV-Trainer wohnt hier mit seiner Familie seit 2009, als er von Leverkusen kommend bei den Rothosen unterschrieb. Nach Stuttgart, seiner nächsten Trainerstation, ist er, so häufig es ging, gependelt. „Wir sind während meiner Karriere genug umgezogen.“

Bruno Labbadia war ein wendiger Stürmer, der in 328 Bundesliga-Spielen für den Hamburger SV, 1. FC Kaiserslautern, Bayern München, 1. FC Köln und Werder Bremen 103 Mal getroffen hat. Als Trainer, der er seit 2003 ist, kann Labbadia den Stürmer nicht verleugnen. „Ich bin ein großer Fan davon, offensive Abläufe zu trainieren“, sagt der Fußball-Lehrer, während wir in einem Szene-Café frühstücken.

Es gibt Angreifer, die sprechen von Intuition, wenn sie erklären wollen, warum sie Tore schießen. Labbadia spricht von speziellen Übungseinheiten, die man für das richtige Timing im Strafraum braucht. „Ich habe fast täglich Flankentraining gemacht“, sagt er. „Weil ich glaube, dass man immer wieder dieses Gefühl dafür braucht. Ich habe mir das Timing immer wieder geholt. Wenn ich eine Phase hatte, in der ich merkte, mir fehlt das richtige Timing, dann habe ich mir nur ,Mondbälle’ reinspielen lassen. Einfach nur hohe Flanken, wo ich am höchsten Punkt den Ball per Kopf nehmen musste. Dadurch habe ich das Gefühl zurückbekommen.“

Elf gegen Null

Dazu gehört die Antizipation, das Vorausahnen von Situationen, das man trainieren kann „und fast täglich trainieren muss“, so Labbadia. Um zu verdeutlichen, was er meint, erzählt er eine Anekdote aus dem Spätherbst seiner Karriere als Zweitligaprofi beim Karlsruher SC. Die Badener retteten sich 2003 am letzten Spieltag durch ein Labbadia-Tor gegen Greuther Fürth vor dem Abstieg. „Im letzten Jahr meiner Karriere machte ich wie immer nach dem Training weiter. Ich war 37, ein anderer 37-Jähriger, Bernhard Trares, gab die Flanken. Ein jüngerer Spieler fragte mich, warum ich das mache. Ich war ganz perplex und wusste nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Tag hat mir Trares die Vorlage zu einem entscheidenden 1:0-Treffer gegeben. Ich bin zu dem jungen Spieler hin und habe ihn gefragt: ,Hast du jetzt gesehen, warum?’“

Labbadia hat nach dieser Episode einige Spieler mit überragendem Talent im Torabschluss gesehen. „Patrick Helmes ist in Leverkusen kalt auf den Trainingsplatz gekommen und hat das Ding aus 50 Metern ins Tor geknallt. Der wollte immer nur schießen. Der brauchte eigentlich kein Schusstraining. Ein begnadeter Abschlussspieler.“ Stürmerkollege Ruud van Nistelrooy, den Labbadia beim Hamburger SV erlebte, hat „keinen harten Schuss gehabt, aber die Genauigkeit“ im Abschluss.

Selbst in der Bundesliga sind Spieler, die im gegnerischen Strafraum die Ruhe bewahren, knapp und entsprechend begehrt. Labbadia nennt einen Spieler wie Alexander Meier, den er noch nicht trainiert hat. Der Offensivspieler von Eintracht Frankfurt schießt die meisten seiner Tore technisch anspruchsvoll mit dem Innenspann. Diese Direktabnahmen kann man üben, man braucht als Stürmer möglichst viele davon. „Häufig werden diese Dinge nach dem Training simuliert. In der Regel nehme ich mir alle zwei, drei Tage die Offensivspieler vor. Dann gibt es Wettbewerbe. Ich lasse mir Dinge einfallen, bei denen es um Reaktion geht. Der Stürmer steht zwischen Elfmeterpunkt und Sechzehner mit dem Rücken zum Tor. Von links oder rechts kommt ein Ball, unterschiedlich hart oder hoch. Der Stürmer muss sich schnell drehen und schnell darauf reagieren.“

Ist die Antizipationsfähigkeit für einen Angreifer elementar, wird im modernen Fußball, mit seinen sich verknappenden Räumen, mehr verlangt. „Gegen tief stehende Gegner braucht man in der Offensive bestimmte Bewegungsabläufe, um dieses Gefüge auseinander zu nehmen“, sagt Labbadia. „Deshalb trainieren wir die Automatismen, die dafür nötig sind. Mal ohne Gegner, mal mit Gegner.“ Die Taktikschulung kann als Grundvoraussetzung zunächst bedeuten, dass Labbadia seine Profis auch im Elf gegen Null die von Thomas Helmer beschriebenen Trockenübungen nach Art von Giovanni Trapattoni üben lässt. „In Italien“, sagt Labbadia, selbst italienischer Abstammung, „macht man das teilweise zweimal in der Woche eine bis anderthalb Stunden lang. Man merkt, dass es dort von der Jugend an ein Trainingsschwerpunkt ist. Bei uns ist das noch nicht so drin. Die Erfahrung ist, dass wenn man das bei uns mal länger als eine halbe Stunde macht, eine gewisse Langeweile, fast Desinteresse aufkommt. Man muss es deshalb dosiert und immer wieder punktuell ins Training einbringen. Ich bin ein großer Befürworter davon, weil ich glaube, dass es zur wöchentlichen Arbeit dazugehört.“

Laufwege üben, freie Entscheidungen treffen

Entscheidend sei, so Labbadia, den Spielern Lösungsmöglichkeiten mitzugeben. „Es ist definitiv schwieriger, die Offensive als die Defensive zu trainieren, weil zur Offensive viele Aspekte wie Intuition, Phantasie und eine gewisse Flexibilität im Kopf dazugehören. „Wir haben klare Spielzüge vorgegeben. Anschließend ist es wichtig, dass die Spieler das, was wir trainiert haben, ohne weitere Vorgaben anwenden. Die Mannschaft bekommt die Zeit und die Freiheit, ihre Phantasie auszuspielen. Im Spiel müssen die Spieler auch freie und vor allem richtige Entscheidungen treffen.“

 

Zur Person: Bruno Labbadia, Jahrgang 1966, ist der einzige Profi, der in der 1. und 2. Bundesliga jeweils mehr als 100 Tore schoss. Er ist das jüngste von neun Geschwistern, deren italienische Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Nur wenige Tage, nachdem die „personifizierte Nummer neun“ beim Karlsruher SC seine Profi-Laufbahn beendet hatte, begann er im Mai 2003 als Trainer zu arbeiten. Er bekam eine Anfrage seines Heimatvereins Darmstadt 98, der damals in der Oberliga spielte. Labbadia blieb drei Jahre in seiner Geburtsstadt und stieg mit den „Lilien“ in die Regionalliga auf. 2006 absolvierte er erfolgreich die Ausbildung zum Fußball-Lehrer. Von 2007 bis 2008 trainierte er den Zweitligisten Greuther Fürth, mit dem er den Aufstieg in die Erste Liga zwar verpasste, aber attraktiven Offensivfußball spielen ließ. Anschließend arbeitete Labbadia für drei Erstligisten: Bayer Leverkusen (2008/09), den Hamburger SV (2009 bis April 2010) und den VfB Stuttgart (Dezember 2010 bis August 2013). Mit Leverkusen und Stuttgart erreichte er das Finale des DFB-Pokals. Seit dem 15. April 2015 ist er erneut Trainer des Hamburger SV.
Labbadias Profikarriere dauerte von 1984 bis 2003. Er schoss zuverlässig Tore für Darmstadt 98, den Hamburger SV, 1. FC Kaiserslautern, Bayern München 1. FC Köln, Werder Bremen, Arminia Bielefeld und den Karlsruher SC: 103 Tore waren es in der Bundesliga, mit 101 Treffern fast ebenso viele in der zweiten Liga. Hinzu kamen zwei Länderspiele im DFB-Dress.

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