FILMGESCHICHTE

Als Torwarttore doppelt zählten

1998 war das Jahr von Florian Lienkamp. Der Hamburger wurde Tischfußball-Weltmeister im Doppel und durfte in „Absolute Giganten“ die berühmte Szene mit dem Torwarttrick doubeln. Von Matthias Greulich

 

Föorian Lienkamp
Tischfußball-Weltmeister 1998: Florian Lienkamp. Er doubelte die Kicker-Szene in „Absolute Giganten“.
Foto: Lienkamp

 

Diese Geschichte beginnt im Hinkelstein, einer Kneipe in der Nähe des Dammtorbahnhofs in Hamburg, die es schon lange nicht mehr gibt. Florian Lienkamp ist Schüler und müsste eigentlich für die Abiturprüfungen lernen. Aber er geht lieber Tischfußball spielen. Ins Hinkelstein, das so heißt, weil der Wirt gerne Asterix-Comics liest. Um fünf Uhr nachmittags macht Lienkamp Schusstraining, manchmal spielt er dann bis fünf Uhr nachts. „Mein Abi“, glaubt der heute 40-Jährige, „hätte besser sein können.“
 
Nicht weiter wild. Aus Lienkamp ist doch etwas geworden: Kaufmännischer Leiter im Imperial-Theater in Hamburg. Und Weltmeister: 1998 in Dallas siegt er in der Rookie-Konkurrenz gemeinsam mit George Kamaly. Ein Team, das durch seine Unterschiedlichkeit für die Gegner schwer auszurechnen ist. Kamaly treibt den am Tisch eher ruhigen Lienkamp immer wieder an. „Nach jedem Tor haben wir uns laut angefeuert. Drei Tage lang war ich ein anderer.“ Er braucht nur zu Kamaly herüberzusehen, wenn er an das Ziel der beiden erinnert werden will: Sein Partner lässt sich einen Bart wachsen, „solange bis wir Weltmeister sind“.
 
Im riesigen Convention Center in Texas verlieren sie das erste Spiel. Vielleicht ein Glücksfall. Sie müssen sich über die Verliererrunde herankämpfen. Aber sie kommen wieder, wechseln nicht einmal die Positionen. Kamaly spielt hinten, Lienkamp gleicht seine eher durchschnittlichen Fähigkeiten in der Mitte durch den Angriff aus. Immer wieder hat er den Snake Shot geübt, den können zu dieser Zeit in Europa nur ganz wenige. Er hat diese Schusstechnik zuerst in Frankfurt gesehen, bei einem Spiel von Jamal Allalu. „Ich habe ihn gefragt, was er da macht und ob er mir das zeigen kann.“ Lienkamp erkennt, was für ein Potenzial in dem Schuss steckt, den sie in Europa Jet nennen. Anfangs gelingt der Snake Shot nicht so richtig, er verliert häufiger als sonst. Aber nach einigen Monaten hat er’s perfekt drauf.
 
In Dallas sind 1.600 Teilnehmer am Start, am Ende hat die Tischfußball-Welt die Namen Lienkamp/Kamaly auf dem Zettel: Sie werden 33. bei den Profis, Elfte der Amateure. Und bei den Rookies, denjenigen, die zum ersten Mal bei einer WM dabei sind, landen sie ganz vorne. „Für uns ist ein Traum in Erfüllung gegangen“, sagt Lienkamp.
 
Mit ihm freut sich sein Tischfußball-Lehrmeister Thorsten Petersen,  der in die USA mitgereist ist. 1993 und 1995 war Petersen Europameister. Er berät den Regisseur und Drehbuchautor Sebastian Schipper, der in seinem ersten großen Kinofilm von einer lange Kickerszene träumt. Schipper will das Spiel mit einem Torwarttrick beenden und freut sich wie ein kleiner Junge, als Lienkamp ihm sagt, dass er das hinbekommt. Sie drehen die Szene von oben mit einer speziellen Kamera für die Superzeitlupe – nach 30 Sekunden ist eine Filmrolle durchgelaufen. „Das Surren der Kamera war unglaublich laut“, erinnert sich Lienkamp. Er trifft mehrere Male, Schipper entscheidet sich für einen Schuss, bei dem der Ball fast noch aus dem Tor herausrollt.
 
Der Tisch stand in der Zoë Bar in der Clemens-Schultz-Straße, die mittlerweile „Möwe Sturzflug“ heißt. Lienkamp, Inhaber einer Sitzplatzdauerkarte beim FC St. Pauli, feierte mit der Crew des Films anschließend eine Party in Rufweite zum Stadion. Einige Jahre später drehte Fatih Akin Teile von „Gegen die Wand“ im Zoë. Gibt nur wenige Kneipen, die Schauplätze zweier solcher Filme sind. Die Szene aus Schippers Debütfilm gilt immer noch als die schönste verfilmte Tischfußball-Sequenz überhaupt.
 
Als „Absolute Giganten“ 1999 Premiere hatte, saß Lienkamp im Publikum. Beim Torwarttrick gab es Szenenapplaus. Er schaute sich den Abspann bis zum Ende an. Wirklich jeder, der bei den Dreharbeiten dabei war, wurde namentlich erwähnt – bis auf ihn. „Ich dachte schon: Schade, die haben dich vergessen.“ Als alles vorbei war, stand da mit großer Schrift: „Danke an den Tischfußball-Weltmeister Florian Lienkamp.“
 
 

Mehr geht nicht. Nach der Weltmeisterschaft beginnt er sich langsam aus dem Leistungs-Tischfußball zurückzuziehen. Er ist 1,98 Meter groß, wenn er lange gespielt hat, merkt er das hinterher im Rücken. Und er hat den Posten beim Imperial-Theater übernommen, das sich mit Krimi-Aufführungen in Hamburg einen Namen gemacht hat. Die Zeit fürs Training wird knapp und es fehlt auch ein wenig die Motivation, zuhause am eigenen Tornado-Kicker aus den USA zu üben.
 
Lienkamp geht aber immer noch gerne raus zum Spielen. Gelegentlich kommt er ins Kicker-Leistungszentrum in der Talstraße auf St. Pauli. Dort treffen sich die ambitionierten Spieler in Hamburg zu DYP-Turnieren. DYP steht für Draw Your Partner. Der Sport, findet Lienkamp, hat sich weiter entwickelt. Besonders die Mittelreihe. „Kontrollierter, präzise, schneller“, werde heute gespielt. Ganz in der Nähe des Leistungszentrums, in den Kneipen am Hamburger Berg, gehört ein Tisch ebenfalls zum guten Ton. Auch da macht Lienkamp ab und zu ein Spielchen mit Kumpels, etwa in der Barabarabar. Spaß macht es immer noch. Aber so wie im Hinkelstein wird es nicht mehr.
 
Absolute Giganten
Der erste Kinofilm des Regisseurs Sebastian Schipper ist 76 Minuten lang, zehn davon sind ein Showdown am Kickertisch. Floyd zieht die ganze Nacht mit seinen Kumpels Ricco und Walter durch Hamburg. Es ist das vorläufige Ende ihrer Freundschaft. Floyd hat auf einem Containerschiff angeheuert, das am nächsten Morgen ablegen wird.
 
In einem dunklen Keller fordern sie den Schnauzbartträger Snake. Es geht um 420 Mark. Ihr letztes Geld. Snake sieht Floyd vor dem Einwurf lange in die Augen. Der versucht, dem Blick standzuhalten. Schuss der Mittelreihe: 1:0. Kameramann Frank Griebe filmt in Originalgeschwindigkeit von oben: Snakes Angriff trifft links unten, 2:0. Ricco im Tor schaut hoch, als sich Snake am Ohr kratzt. Als er den Torwart loslässt, heißt es 3:0. Ein mieser Trick. Floyds Angriffsreihe rettet wenigstens die Ehre: Nur noch 3:1. Snake, Mitte, und Snake, Angriff, es steht 5:1. Beim nächsten Gegentor sind die Jungs ihr ganzes Geld los. Ricco, der nicht an mangelndem Selbstvertrauen leidet, versucht den Torwarttrick und haut sich den Ball selber rein. Snake steckt die Geldscheine in seinen Lederhandschuh ein und haut mit seinem Milchshake ab.
 
Walter holt ihn zurück, legt einen Autoschlüssel auf den Tisch. Er setzt seinen Ford Granada, Baujahr 1974, Vinyldach, erweitert um ein australisches V8-Motor-Aggregat. Die Jungs schwitzen, es geht um alles. Die Kamera geht nun ganz dicht dran, ist auf Ballhöhe. 5:4 für Snake, aber in diesem Spiel gelten Spezialregeln. Torwarttore zählen doppelt. Ricco muss es also noch mal versuchen mit dem Torwarttrick, der eigentlich ein Angeberschuss ist. Jeder kleine Kratzer in der Oberfläche ist zu sehen, als die Plastikkugel über der Torlatte eingeklemmt ist. Superzeitlupe von oben. Es klackt zweimal, als der Ball im Tor hin- und herrollt.
 
Schipper hat jeden einzelnen Spielzug zuvor eigenhändig aufgezeichnet. Der Perfektionist weiß: Wenn die da oben mit dem Gesicht etwas anderes machen, als die Hände am Tisch, würde es nicht funktionieren. Aber es funktioniert, weil Schipper den Schauspielern Spielzug für Spielzug erklärt, wie die Tischfußballer schießen werden. Auch die Kamerafahrten von Griebe sind fantastisch: Mit einer Art Schnorchel filmt er den Ball mitten im Tisch und seitlich durch eine Plexiglasscheibe. Neben Thorsten Petersen und Florian Lienkamp spielen Hermann Bredekorn und Stefan Schatz, die beide im Abspann allerdings nicht erwähnt werden.

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