SPANIEN
Zwölf Raketen in Donostia
Die Txuri-urdin grüßen überraschend von der Tabellenspitze. Der furiose Saisonstart von Real Sociedad San Sebastián weckt im Baskenland Erinnerungen an das Team, das mit dem jungen Xabi Alonso beinahre Meister geworden wäre. In dieser Saison könnte es nun mit der Sensationsmeisterschaft klappen. Von Dirk Segbers, Barcelona.

 

 Naco Monreal Real Sociedad San Sebastian wird nach seinem Tor gegen Granada gefeierNaco Monreal Real Sociedad San Sebastian wird nach seinem Tor gegen Granada gefeier. Foto: Imago

 

Eine Rakete: Tor für den Gegner. Zwei Raketen: Tor für Real Sociedad. Diese Gleichung kennt in der nordspanischen Küstenstadt San Sebastián jedes Kind. 1960 entstand beim baskischen Traditionsverein die Idee, die Arbeiter im nahen Hafen auf diese Weise über den aktuellen Spielstand zu informieren. Der Klub hat sich etwas Besonderes einfallen lassen, um das 60-jährige Jubiläum des Entstehens dieser einzigartigen Tradition gebührend zu feiern, die nach dem Umzug vom alten Estadio de Atotxa ins aktuelle Anoeta-Stadion für einige Jahre in Vergessenheit geriet, aber zur Saison 2006/2007 wieder aufgelebt wurde. In dieser Saison werden die Feuerwerkskörper nicht nur in der Hauptstadt San Sebastián in den Himmel geschossen, sondern auch in zehn weiteren Orten der Provinz Gipuzkoa. Auch wenn in Zeiten von Smartphones natürlich niemand mehr auf diese Art der Ergebnisverkündung angewiesen ist, dürfen sich jeden Spieltag in dieser Saison viele Tausend Anhänger, die momentan aus bekannten Gründen nicht ins Stadion dürfen, an den Raketen erfreuen. Denn der Verein hätte sich bislang keine bessere Spielzeit dafür aussuchen können: zwölf Raketen für Real Sociedad, vier für die Gegner lautet die Zwischenbilanz nach neun Saisonspielen. Was aber noch viel wichtiger ist: Auswärts läuft es auch hervorragend und die Txuri-urdin grüßen etwas überraschend von der Tabellenspitze.

Auch wenn das Tabellenbild momentan aufgrund der unterschiedlichen Anzahl der Duelle – Atlético Madrid hat beispielsweise zwei Spiele, aber nur drei Punkte weniger – etwas verzerrt ist, werden Erinnerungen wach an die Saison 2002/2003, die Real Sociedad ähnlich erfolgreich startete. Damals verleitete das türkisch-serbische Sturmduo Nihat/Kovacevic mit 23 bzw. 30 Saisontreffern die sonst eher reservierten Basken zu Jubelstürmen, während ein blutjunger Xabi Alonso im Mittelfeld die Fäden zog und nebenbei auch noch zwölf Tore beisteuerte. Am Saisonende stand jedoch nur die Vizemeisterschaft, da die Star-Truppe von Real Madrid mit Raúl, Zinédine Zidane und dem frisch verpflichteten Ronaldo auf der Zielgeraden noch vorbeizog. Seitdem lief es beim zweimaligen spanischen Meister (1981 und 1982) eher schlecht als recht. 2007 kam es sogar zum Abstieg in die Zweitklassigkeit, nach zwei Jahren im Unterhaus ging es jedoch wieder hoch und seitdem hält man sich in der Primera División.

 

Das Team von Real Sociedad San Sebastián im November 2002
Das Team von Real Sociedad San Sebastián im November 2002 wurde am Saisonende doch nicht Meister. Oben links ist Torjäger Darko Kovacevic, hinten ganz rechts der junge Xabo Alonso zu sehen. Foto: Imago

 

Warum könnte es gerade in dieser Saison also etwas werden mit dem dritten Meistertitel? Sicherlich ist es nach nicht einmal einem Viertel der Saison zu früh, Prognosen abzugeben. Dennoch lassen sich einige Tendenzen erkennen. Da wäre zum einen die momentane Schwäche der historischen Platzhirsche Real Madrid und FC Barcelona. Bei den Katalanen herrscht auf Führungsebene heilloses Chaos, gerade erst trat der umstrittenen Präsident Bartomeu zurück. Nicht gerade unschuldig am Chaos ist (neben der Amtsführung des Präsidenten in den vergangenen Jahren) Lionel Messi, der diese Saison seinem Stammverein nur die Stange hält, da er sich ansonsten hätte herausklagen müssen. Dementsprechend lustlos sind mitunter seine Auftritte auf dem Spielfeld. Ohne Messi als Referenzpunkt und mit den umstrittenen in der Bartomeu-Ära getätigten Transfers (u. a. Luis Suárez weg, Mitläufer wie Martin Braithwaite verpflichtet) dürfte es niemanden überraschen, wenn der Klub dieses Mal sogar um die Champions-League-Plätze kämpfen muss. Dauerrivale um den Titel Real Madrid spielt zwar irgendwie solide und in der Gesamtheit auch sicherlich nicht schlecht, hat aber mitunter das Pech, dass der Gegner sehr treffsicher auftritt (siehe CL-Duell gegen Gladbach), oder dass die Summe individueller Fehler zu Niederlagen wie zuhause gegen Aufsteiger Cádiz oder jüngst gar Klatschen wie beim 1:4 in Valencia führen. Dadurch befindet sich der dem spanischen Fußball zugeneigte Anhänger in der angenehmen Situation, doch vielleicht tatsächlich mal wieder eine Saison zu erleben, die Spannung über das Duell Barca-Real hinaus verspricht. Davon kann man hierzulande nur träumen!

Darüber hinaus ist die aktuelle Saison Corona-bedingt ohnehin quasi unberechenbar, was auf lange Sicht die Außenseiter bevorteilen könnte. Während die Pandemie in Spanien weiter mit voller Wucht zuschlägt, werden diese Saison mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Zuschauer mehr zugelassen. Die Unterstützung für die Heim-Teams (Auswärtsfahrten der Fans sind in Spanien, abgesehen von Derbys, unüblich) entfällt dadurch und folglich kommt es gar nicht erst zu einschüchternden Szenarien wie beispielsweise durch die fanatischen Anhänger der beiden Clubs aus Sevilla oder eben in Barcelona und Madrid. Real spielt diese Saison sogar wegen des Umbaus nicht im Santiago Bernabéu, sondern im Estadio Alfredo di Stefano, das eher an eine Bezirkssportanlage erinnert. Fear Factor gleich null. Hierzu kommt die Ungewissheit, welches Team eventuell durch Corona-Fälle dezimiert wird und welche Partien zu welchem Zeitpunkt der Saison gar verschoben werden müssen. Eine große Wundertüte also, und warum sollte aus dieser am Ende der Saison nicht eine echte Überraschung herauskommen?

Neben diesen externen Faktoren sprechen aber selbstverständlich noch einige hausgemachte Gründe für die Basken als Überraschungsmannschaft dieser Saison. Da wäre zum einen die vergangene Saison, die bereits auf einem Europa-League-Platz beendet wurde. Im Pokal gelang der Einzug ins Finale, das erst dann ausgespielt werden soll, wenn wieder Zuschauer zugelassen werden. Im Viertelfinale brannte Real Sociedad im Bernabéu ein wahres Feuerwerk ab und führte zwischenzeitlich mit 4:0 gegen Real Madrid. Die Mannschaft ist in diesem Jahr weitgehend zusammengeblieben (vom schmerzlichen Verlust von Martin Ödegaard, der zurück zu Real Madrid beordert wurde, mal abgesehen) und kann auf einem bestehenden Gerüst aufbauen. Dazu kamen diverse vielversprechende junge Spieler zurück, die vergangene Saison verliehen waren, darunter gleich drei vom Zweitligisten CD Mirandés, die maßgeblich dazu beitrugen, dass der Außenseiter bis ins Pokalhalbfinale gegen Real Sociedad vordrang. Allen voran überraschte der Klub aber mit dem Neuzugang David Silva von Manchester City, der ablösefrei kam. Dem bereits besonders im Mittelfeld und in der offensive sehr stark besetzten Kader mit den Ex-Dortmundern Mikel Merino und Alexander Isak sowie Shooting-Star Mikel Oyarzabal (Marktwert 60 Millionen) wird der Weltmeister und zweifache Europameister zu einem weiteren Qualitätssprung verhelfen. Und wenn ein Spieler der Kategorie Silvas sich für einen Verein entscheidet, der keine Top-Gehälter zahlen kann, ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die sportliche Perspektive stimmt. Hinzu kommen weitere erfahrene Kräfte wie Nacho Monreal oder Ex-Madridista Asier Illaramendi. Ein stark besetzter Kader, bei dem die Mischung zu stimmen scheint. Auf der Trainerbank setzt die Vereinsführung wie vergangene Saison auf Imanol Aguacil, der seine gesamte Trainerlaufbahn bei Real Sociedad bestritt und in seine zweite Saison als Profitrainer geht. Allein das ist beachtlich für den Klub und spricht für einen Philosophiewechsel: In den letzten 20 Jahren hat kein Coach länger als drei Jahre durchgehalten. Aguacil ist der 19. Trainer seit 2000. Die Teilnahme an der Europa-League wird ihm diese Saison Rotationsmöglichkeiten einräumen, um so alle mit regelmäßigen Pflichtspieleinsätzen bei Laune zu halten.

Und selbst wenn es doch diese Saison nicht klappen sollte mit der Sensationsmeisterschaft: Die Weichen im Klub sind gestellt für viele erfolgreiche Jahre. Das Durchschnittsalter des aktuellen Teams liegt bei unter 26 Jahren. Unglaubliche 23 Spieler des aktuell 35 Mann starken Kaders stammen aus der eigenen Jugend. Dies dürfte besonders beim baskischen Rivalen von Athletic Bilbao für Neid sorgen. Dort versucht man es bekanntlich seit jeher mit einer Transferpolitik, die auf eigenen Nachwuchs sowie Spieler aus der umliegenden Geografie setzt. Real Sociedad setzt genau dies um, ist dabei momentan jedoch um einiges erfolgreicher als Athletic und kann sich punktuell mit „auswärtigen“ Spielern wie dem Kanarier David Silva verstärken, da die Vereinsphilosophie anders als in Bilbao den Klub nicht daran hindert. Beim Nachwuchs von Real Sociedad läuft es derweil auch vortrefflich: Die zweite Mannschaft von Real Sociedad steht momentan auch an Platz eins in seiner Gruppe der 3. Liga. Trainer ist dort ein gewisser Xabi Alonso. Stellt sich also nur noch die Frage, wie viele Raketen beim Gewinn einer Meisterschaft abgefeuert werden.

 

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