AUSSENVERTEIDIGER

Revolution von Außen

Die meisten Ballkontakte im Spiel haben inzwischen häufig die Außenverteidiger. Sie eröffnen das Spiel und gehen bis zum gegnerischen Strafraum. RUND erzählt die Geschichte einer lange Zeit unterschätzten Position. Von Roger Repplinger

 

Philipp Lahm

 

Rechtsfuß auf links: Philipp
Lahm vom FC Bayern Foto Hochzwei

Sascha Kirschstein hat den Ball in der Hand. Schaut sich um. „Wohin damit?“, fragt sich der Torwart des Hamburger Sport-Vereins. Der Gegner, Hannover 96, presst. Die Stürmer Vahid Hashemian und Jirí Stajner warten nur darauf, dass einer der Innenverteidiger des HSV den Ball bekommt. Dann können sie auf die Abwehrspieler losgehen, sie unter Druck setzen. Hashemian steht dicht bei Joris Mathijsen, Stajner beobachtet Vincent Kompany. Sie lauern. „Nun braucht der Torhüter ein Angebot“, nennt Klaus Augenthaler, der Trainer des VfL Wolfsburg, diese zentrale Situation des modernen Fußballs. Was Kirschstein macht, entscheidet über den folgenden Angriff. Der Spielaufbau fängt bei ihm an, er stellt die Weichen.
 
Kirschstein wirft den Ball nicht zu einem seiner Innenverteidiger, die sich eines Angriffs durch Hashemian oder tajner nur durch ein riskantes Dribbling vor dem eigenen Strafraum erwehren können oder dadurch, dass sie den Ball blind nach vorne schlagen. Das könnte Kirschstein auch selbst tun. Der Ball bei den Innenverteidigern trägt zum Aufbau des HSV-Spiels nichts bei. Die Außenverteidiger haben mehr Zeit, wenn sie den Ball bekommen, weil der Weg von Hashemian und Stajner auf die Flügel weiter ist als der Weg in die Mitte. Zeit ist wichtig im Fußball, Zeit ist Spiel. Kirschstein wirft den Ball zum aufgeregt winkenden Thimothée Atouba. Gute Wahl. Das Spiel hat begonnen.
 
Atouba, der linke Außenverteidiger des HSV, kann an guten Tagen alles: dribbeln, passen, flanken; er hat taktisches Spielverständnis; er kann das Spiel schnell oder langsam machen, was nichts anderes bedeutet, als den Mitspielern Zeit zu geben und dem Gegner Zeit zu nehmen; er kann den Ball auf die andere Seite schlagen, zum rechten Verteidiger Mehdi Mahdavikia; er kann mit Juan Pablo Sorin und Rafael van der Vaart im Mittelfeld ein Dreieck bilden; er kann mit Sorin einen Doppelpass spielen; er kann Sorin einen Steilpass anbieten; er kann, weil Hashemian auf dem Weg zu ihm ist, Mathijsen anspielen.
 
Atouba muss nun entscheiden: Habe ich Zeit? Wie viel Zeit habe ich? Brauche ich mehr Zeit? Die verschafft er sich, indem er Hashemian ausspielt. Die Stürmer Boubacar Sanogo und Paolo Guerrero können sich freilaufen. Atouba ist ein freier Spieler. Es ist ein Vergnügen, ihn dabei zu beobachten, wie er verschiedene Möglichkeiten durchspielt und fast immer die richtige wählt. Atouba ist ein moderner Außenverteidiger. „Ein kompletter Spieler“, sagt sein Trainer Thomas Doll. Er kann und darf fast alles.
 
Werner Kohlmeyer durfte nichts. Auch Jupp Posipal, auf der rechten Seite der deutschen Nationalelf, die 1954 Weltmeister wurde, durfte nichts. Sepp Herberger hätte jeden Verteidiger herausgenommen, der sich etwas herausgenommen hätte. Die eigene Abwehr machte das Spiel des Gegners kaputt, sonst nichts. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten zwei Trainer schon eine andere Idee.
 
Helenio Herrera und Karl Rappan entwickelten das von Herbert Chapman erfundene WM-System weiter. Rappan, der Wiener, ließ in den 30ern den Schweizer Riegel spielen, Herrera aus Buenos Aires entwickelte nach dem Krieg den Catenaccio. Dabei sollten die Außenläufer die gegnerischen Außenstürmer decken. Herrera wollte nicht nur mauern, sondern forderte, dass sich die zu Außenverteidigern umfunktionierten Außenläufer in den eigenen Angriff einschalteten. Der Erste, der das beherrschte, war ein schlaksiger Mann bei Inter Mailand namens Giacinto Facchetti. Der kürzlich Verstorbene debütierte 1961. Er war schnell, hatte einen guten Schuss, ein gutes Kopfballspiel und war ein großer Dribbler. Der Prototyp.
 
Der erste Deutsche, der an der Linie mitstürmte, war der sommersprossige Rheinländer Karl-Heinz Schnellinger. Deutsche Außenverteidiger blieben auch nach ihm für italienische Clubs attraktiv, wenn sie offensive Fähigkeiten hatten: Stefan Reuter, Andreas Brehme, Thomas Berthold, Christian Ziege oder Jörg Heinrich spielten zum Teil sehr erfolgreich in der Serie A. Meist konnten sie stürmen, weil sie nicht als Abwehrspieler auf die Welt gekommen waren. Wie zum Beispiel Paul Breitner, der bei Real Madrid landete. Er war beim SV Kolbermoor und ESV Freilassing, als er noch „Paule“ hieß, Stürmer. Von Udo Lattek beim FC Bayern München wurde er als linker Außenverteidiger aufgestellt. Als Rechtsfuß, wie heute Philipp Lahm. Das Vorbild aller stürmenden rechten Verteidiger war Manfred Kaltz. Legendär sind bis heute seine Bananenflanken auf Horst Hrubesch, ein taktisches Mittel, das in der Saison 1978/79 erheblichen Anteil an der deutschen Meisterschaft des Hamburger SV hatte.
 
Es gab zu allen Zeiten gute Außenverteidiger. Doch während die Genannten zu ihrer Zeit die Ausnahme waren, werden die Eigenschaften, die sie auszeichneten, heute von allen Spielern auf dieser Position erwartet: „Athletisch müssen sie sein, kopfballstark, taktisch und technisch gut, ruhig am Ball, dynamisch in der Bewegung, sicher in der Ballbeherrschung, gute Flanken sind wichtig, saubere Pässe“, zählt Augenthaler auf, „denn welcher Spieler hat heute mit die meisten Ballkontakte? In der Regel der Außenverteidiger.“ Thomas Doll ergänzt, dass auch Schnelligkeit eine entscheidende Rolle spielt: „Da er sich mit schnellen Mittelfeldspielern auseinandersetzen muss, muss auch der Außenverteidiger flink sein.“ Das Tempo des modernen Fußballs wird nicht in der Mitte gemacht, es entsteht links und rechts außen.
Welche Spieler füllen diese Position nahezu perfekt aus? „Clemens Fritz“, sagt Augenthaler. Er hat Fritz, der beim Karlsruher SC im rechten Mittelfeld hinter den Spitzen gespielt hatte, bei Bayer Leverkusen auf die rechte Abwehrseite gestellt. „Er war dynamisch, hatte Spielverständnis. Warum nicht weiter hinten, dachte ich mir, die Qualität hat er“, erinnert sich Augenthaler. Dann hat er Trockenübungen mit Fritz gemacht, vier gegen fünf, um das Abwehrverhalten zu stärken. Drei-, viermal in der Woche. „Das hat Clemens sofort drauf gehabt. Die Position offensiv zu spielen war für ihn selbstverständlich. Er hat offensiv gedacht“, sagt Augenthaler, „denn was man einmal gespielt hat, vergisst man nicht wieder.“
 
Auch Thomas Doll hat aus der Not eine Tugend gemacht und den rechten Mittelfeldspieler Mahdavikia nach hinten gezogen. „Das hat er in der iranischen Nationalmannschaft auch schon gespielt“, sagt Doll. Auch wenn er sich „taktisch manchmal noch besser verhalten“ könne, beherrsche er das offensive Spiel. Ein großer Vorteil, zumal beim HSV der rechte Mittelfeldspieler nicht nach hinten rückt, wenn sich der rechte Außenverteidiger auf den Weg macht. Um das offensive Potenzial zu nutzen, sollen beide nach vorne gehen. Da muss der Innenverteidiger aushelfen.
 
Die Entwicklung, gelernte Mittelfeldspieler hinten rechts oder links spielen zu lassen, hat die Defensivpositionen aufgewertet, doch sie birgt das Risiko, dass die „Basisaufgaben“, wie das Augenthaler nennt, nicht beherrscht werden. Die Defensive hat oberste Priorität, Spielaufbau und Offensive sind ebenfalls wichtig, stehen aber an zweiter Stelle. Verändert sich eine Position, verändern sich automatisch alle anderen mit. Dass den Außengliedern der Viererkette mehr Aufgaben zufallen hat zur Folge, dass auch den linken und rechten Mittelfeldspielern neue Aufgaben zuwachsen. Sie müssen defensive Stärken entwickeln. Innenverteidiger müssen schneller werden, wenn Außenverteidiger stürmen, der Torwart muss mitspielen.
 
Die meisten Torhüter haben immer noch den starken Impuls, den Ball, den sie mehr fürchten als die Feldspieler, möglichst weit weg von ihrem Tor zu sehen. Deshalb hauen sie die Kugel beim Abschlag am liebsten tief in des Gegners Hälfte. Das kommt ihnen mehr entgegen, als den Ball zum Außenverteidiger zu passen. Denn die Außenverteidiger tun zwar viel für das Spiel, gehen aber auch ein größeres Risiko ein. Risiko mögen Keeper nicht. Deshalb schlägt Sascha Kirschstein, der HSV-Torwart, den Ball beim Abschlag viel zu oft nach vorne. Wie zu Herbergers Zeiten. Traurig sieht Atouba dem über ihn hinweg fliegenden Ball nach. Er steht frei, links draußen, und spürt, wie das Gras durch seine Sohlen wächst.








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