Tippgemeinschaft
Sechs Richtige mit Netzer
Diese Geschichte ist so kurios, dass man sie kaum glauben kann. Sie handelt von der unfreiwilligen Spielgemeinschaft Günter Netzer und Helmut Dunken, die gemeinsam 150.000 Mark im Lotto gewinnen. Dunken hat der Coup kein Glück gebracht, Netzer machte er um 75.000 Mark reicher. Von Rainer Schäfer
Diese Zahlen sollten Sie sich einprägen, weil sie immer wieder auftauchen werden: 2, 6, 9, 14, 37, 44, 47. Sie verfolgen Helmut Dunken immer noch, auch heute, an einem Tag, an dem er sie zum Teufel wünscht. Dunkens rechter Unterarm ist bandagiert, seit er vor zwei Tagen auf die glühende Herdplatte gekracht ist. Das frühe Bier soll helfen, die Schmerzen betäuben. Vielleicht hilft die zweite Dose, das auszuhalten, was alles schief gelaufen ist in den letzten Jahren. Auch mit Günter Netzer. Zugeben würde Dunken das nicht. Aber wenn man sich so an jemanden klammert wie er an Netzer, dann kann das wehtun.
„Ich bin der größte Fan von Netzer“, sagt Dunken. Ein Superfan. Wenn sich einer so nennen darf, dann er. 40 Jahre dauert das schon und Dunken weiß noch genau wie sie anfing, seine grenzenlose Verehrung für Netzer: Als Mönchengladbach in der Aufstiegsrunde zur ersten Bundesliga 1965 5:1 gegen Wormatia Worms gewinnt, fällt ihm einer auf, der mit langen Schritten das Mittelfeld durchquert.
Dunken, Jahrgang 53, ist damals zwölf, HSV-Fan und steht mit „Hut und der größten Fahne“ in der Westkurve. Als Mönchengladbach in der Saison 1965/66 beim HSV antritt und Dunken sieht, wie das Rauhbein Willi Schulz ständig nach Netzer tritt, kann er das kaum ertragen. Von da an zählt nur noch Netzer. „Ich war verrückt nach ihm wie andere nach den Beatles. Seitdem bin ich süchtig nach Netzer, seitdem ist der Bazillus in mir drin.“
Dunken sammelt alles von Netzer, was er auftreiben kann. Als talentierter Fußballer trägt er die 10, Netzers Rückennummer, und das als Stürmer. „Schotti“, wie Dunken überall gerufen wird, schafft es als Jugendlicher bis in der Hamburger Auswahl. Weiter nicht. Der Halbstarke wandert wegen Drogenbesitzes in die Jugendstrafanstalt Hanöfersand, wo er auch den Magier Netzer während der Europameisterschaft 1972 beobachtet. Als das deutsche Team die Sowjetunion im Endspiel 3:0 schlägt, lässt er sich seinen Helden auf den linken Arm tätowieren. Piko, der Knast-Tätowierer, gibt sein Bestes. Aber es fällt ihm schwer, Netzers Gesicht exakt zu stechen. Einige Jahre später lässt sich Dunken noch einen Netzer stechen, auf den rechten Arm, der besser ausfällt. Er fühlt sich gut mit dem doppelten Günter auf seiner Haut.
Dunken arbeitet als Isolierer auf dem Bau, wenn er abends nach Hause kommt, liest er Fußballbücher. Manche liest er mehrere Male und speichert in seinem Gedächtnis Seite für Seite ab, oft bis nachts um zwei. Wenn das Leben nur aus Fußball bestünde, Dunken würde es mit Auszeichnung meistern.
Bei der Arbeit kriegt er Probleme, weil Dunken Netzer hinterherfährt, versackt und zwei Tage auf der Baustelle fehlt: „Hätte ich gesagt, ich muss zu einer Beerdigung, wäre nichts passiert. Ich habe aber gesagt, ich gucke Gladbach gegen Real.“ Als er zurückkommt, liegt die Kündigung auf dem Tisch, nicht zum letzten Mal. Es ist ihm egal, er ist in Netzers Nähe gewesen.
Die Beschäftigung mit diesem blonden Halbgott nimmt manische Formen an, Netzers Geburtsdaten und Konfektionsgrößen werden zu Chiffren, die dem eigenen Leben etwas bedeuten, die Schicksal spielen können. Aus Netzers Schuhgröße 47 wird eine magische Zahl, aus der 37, der Anzahl seiner Länderspiele, eine Botschaft. Es sind Zahlen, die Dunken mit Netzer verbinden. Es sind ihre Zahlen.
Als Kicker brachte es Helmut Dunken bis in die Hamburger Auswahl, oben seine letzten Schuhe. Foto Benne Ochs
Als Netzer 1975 sein letztes Länderspiel bestreitet, fängt Dunken an Lotto zu spielen, jetzt sind die Zahlen endlich komplett. Jede Woche füllt er den Tippschein aus, 2, 9, 14, 37, 44, 47, Zusatzzahl 6. 13 Jahre lang setzt Dunken auf die Zahlen, als Netzer im August 1988 bei einem Prominentenspiel am Hamburger Millerntor aufläuft, steckt er ihm einen Umschlag zu, mit einem ausgefüllten Tippschein der Lottogemeinschaft Netzer G. und Dunken H. „Zu deinem Geburtstag“, raunt der Superfan Netzer zu, der das Kuvert ohne Beachtung einsteckt.
Die beiden gewinnen: 5 Richtige mit Zusatzzahl bringen 150.989,90 Mark, Dunken gewinnt mit einem zweiten Schein noch einmal 146.775,60 Mark. Dabei hätte ihr Lottoschein gar nicht gewinnen dürfen, Dunken gibt ihn versehentlich einen Monat zu früh ab, Netzer hat erst im September Geburtstag.
Helmut Dunken lacht, als er das erzählt. Auch das Lachen tut weh, in dieser tristen Gegenwart. Seine Wohnung ist ein Aufbewahrungsort für Erinnerungen, das Mausoleum einer Fußballliebe. Dunken zieht Papiere aus den Schubladen, Beweise, die fotokopierten Lottoscheine, gerahmte Zeitungsartikel, Kopien aus einer Biografie, in der Netzer den Lottogewinn bestätigt.
Die Zahlen machen das möglich, was vorher undenkbar erscheint: Gemeinsam verbrachte Tage und Abende. Netzer, der keimfrei wirkende Star, und Dunken in Lederjacke, unrasiert, mit langen Haaren. Netzer, der inzwischen in der Schweiz lebt, stellt Dunken in bester Gesellschaft als „meinen Lottogewinner“ vor, gemeinsam speisen sie im Hamburger Elysee-Hotel, wo Dunken das Lieblingsgericht Ernst Happels bestellt, Spaghetti mit Scampi.
Nach dem WM-Qualifikationsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Holland im April 1989 in Rotterdam trifft er sich mit Netzer, der ihn mit ins Casino nimmt. Als sie die Spielhalle betreten, hören sie, wie links am Tisch einige ihrer Zahlen gewinnen: 2, 6, 9, 14. „Netzer sagt zu mir: Das glaube ich einfach nicht.“ Dunken geht erst einmal „an den Tresen, um sich vollzuballern“. Von da an zockt er regelmäßig im Spielcasino. „Da hat Netzer Schuld daran“, sagt er regungslos.
Fußball als Wohnkultur: In Helmut Dunkens Wohnung dreht sich alles um Netzer. Foto Benne Ochs
Zu Hause, in Hamburg, versucht Dunken den Lottocoup geheim zu halten, ohne Erfolg. „Überall haben sie gerufen: Hey Schotti, gib einen aus.“ Alle wollen am Gewinn profitieren, Freunde von ihm gehen ins Bordell, ohne Geld, und rufen nachts an, dass er sie auslösen muss. Selbst Piko, der Tätowierer aus Hanöfersand, erinnert sich an Dunken, der zum Frauenschwarm wird. „Ich hatte Hühner am Arsch, die nur mein Geld wollten.“
Nach vier Jahren sind über 220 000 Mark verbraucht, „ich habe gut gelebt“, sagt Dunken lapidar. Um wieder an Geld zu kommen, macht er sich selbständig, als Fuger im Hochbau, „wo man keinen Meisterbrief braucht“. Dunken setzt weiter auf die Zahlen, sein Vater Ewald entwickelt eine Zahlenreihe aus wichtigen Lebensdaten seines Lieblingsspielers Wolfgang Overath – vergebens. Netzer meldet sich zum letzten Mal am 29.9.1994, als Dunkens zweite Frau Petra stirbt, die als Postbotin ihr eigenes Geld verdient hat. Zur Beerdigung schickt Netzer eine Textilschleife für das Grab: „Ein letzter Gruß von Günter.“
Sein Lottopartner Dunken ist seit sechs Jahren arbeitslos, hoffnungslos: „Ich habe keine Chance mehr.“ Die Erkenntnis aus einem ramponierten Leben, in dem geplatzte Träume, verworrene Fantasien und eine brillante Erinnerung an Fußballdetails eine heillose Verbindung eingehen.
Inzwischen zählt jeder Euro. Irgendwann hat Dunken aufgeschrieben, wo sein Geld geblieben sein könnte: 40.000 Mark für Lotto, 20.000 für Spielcasino, 30.000 für Essen, 15 000 für Taxi, 8000 für Fußball und ein bisschen Schmuck. Der ist längst verkauft oder liegt im Pfandhaus, wie das Emblem von Mönchengladbach in Gold mit 42 Brillianten.
„Netzer“, sagt Dunken, „ist das Größte in meinem Leben. Er hat es nicht begriffen, bis heute nicht.“ Gefühle sind Dunken nicht viele geblieben. Nur Erinnerungen und die Zahlen, die er nicht mehr aus seinem Kopf kriegt: 2, 9, 14, 37, 44, 47. Zusatzzahl 6.
Der Text ist in RUND #2_09_2005 erschienen.
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