Taktik

Totgesagte treffen öfter

Lange galt der klassische Neuner als Auslaufmodell. Nun feiert er sein Comeback als Zielspieler neuer Prägung. Gegen dichte Abwehrketten braucht es eine zentrale Struktur. Und das funktioniert am besten mit einem Stürmer, der das Zentrum besetzt, festigt und abschlusssicher ist – nicht trotz, sondern wegen des modernen Spiels. Eine Analyse von Marius Thomas

 

Erling Haaland Foto Pixathlon

 

Über Jahre hinweg galt er als Relikt aus der Vergangenheit: der klassische Neuner. Groß gewachsen, körperlich robust, mit dem Strafraum als natürlichem Lebensraum – der Inbegriff eines Zielspielers. In den 2010er-Jahren wurde er zunehmend verdrängt von flexiblen Offensivreihen, falschen Neunen und temporeichen Flügelkombinationen. Es schien, als hätte der moderne Fußball für den „Brecher“ in vorderster Linie keinen Platz mehr. Der Trend sprach eine klare Sprache: Beweglichkeit vor Präsenz, Technik vor Physis, Kombinationsspiel vor Zielstrebigkeit. Doch wie so oft im Fußball: Die Taktik entwickelt sich in Zyklen. Und der Neuner ist wieder da – nur anders. Zielspieler 2.0 ist keine Rückkehr zum Standfußball vergangener Tage, sondern eine Weiterentwicklung eines Spielertyps, der nie ganz verschwunden ist, sondern sich in den Schatten des Systems zurückgezogen hatte. Heute ist er wieder sichtbar – und wichtiger denn je. Topklubs wie Manchester City, Bayern, Barcelona oder Real Madrid setzen wieder auf zentrale Stürmer, die nicht nur Tore schießen, sondern als Fixpunkt für das ganze Spiel dienen. Der moderne Neuner ist Spielpartner, Pressingauslöser, Raumöffner – und ja, auch immer noch Torjäger. Was also macht diesen „neuen Alten“ aus? Warum erlebt der Zielspieler seine Renaissance? Und wie hat sich seine Rolle verändert, damit er ins komplexe Systemspiel der Gegenwart passt?

Der alte Neuner: Ein Spielertyp von gestern?
In der Rückschau erscheint der klassische Neuner wie ein einfach zu beschreibendes, aber schwer zu verteidigendes Phänomen. Seine Aufgaben waren klar: im Strafraum präsent sein, lange Bälle festmachen, Kopfballduelle gewinnen, Tore erzielen. Technik? Nett, aber nicht zwingend. Kombinationsspiel? Wenn’s sein muss. Viel wichtiger war: da sein, wenn der Ball kommt – und ihn reindrücken. Ikonen wie Luca Toni, Didier Drogba, Mario Gómez, Luca Vieri oder Mirolsav Klose verkörperten diesen Spielertyp wie kaum ein anderer. Ihre Präsenz allein stellte Abwehrreihen vor Probleme, weil sie physisch dominierten, Bälle sichern konnten und immer im Zentrum der gegnerischen Aufmerksamkeit standen. Viele dieser Spieler waren Spezialisten – für Flanken, für zweite Bälle, für Momente, nicht für Strukturen. Doch der Fußball veränderte sich. Mit dem Aufstieg des Ballbesitzfußballs und des hohen Pressings geriet der traditionelle Neuner ins Abseits. Trainer wie Guardiola oder Klopp setzten zunehmend auf flexible Offensivreihen mit fluiden Positionswechseln. „Falsche Neunen“ wie Lionel Messi oder Roberto Firmino ersetzten die zentrale Wucht durch Spielintelligenz, Technik und Bewegung. In dieser Welt schien kein Platz mehr für den klassischen Mittelstürmer – zu statisch, zu vorhersehbar, zu eindimensional. Und doch: Der Fußball vergaß ihn nicht. Er passte sich an. Und bald war klar – was einmal funktioniert hat, kann wieder funktionieren. Nur eben anders.

 


Ein klassischer Neuner: Mario Gomez. Foto Pixathlon

 

Warum der Neuner wieder gebraucht wird
Der Fußball des letzten Jahrzehnts war geprägt von Geschwindigkeit, Positionsspiel und kollektiven Bewegungen. Doch wie so oft im Spitzensport ruft jeder Trend irgendwann seine Gegenbewegung hervor. Die Rückkehr des Neuners ist keine Nostalgie – sie ist die Antwort auf neue Herausforderungen. Denn die Defensivstrategien der Gegner haben sich ebenfalls weiterentwickelt. Viele Teams agieren heute kompakter, tiefer und mit mehr Absicherung. Das Zentrum wird bewusst verriegelt – oft durch eine Fünferkette mit vorgelagertem Mittelfeldpressing. In solchen Räumen wird das Kombinationsspiel schwer, die spielstarken falschen Neunen finden kaum Platz, sich zwischen den Linien zu entfalten. Genau hier schlägt die Stunde des Zielspielers: Ein Stürmer, der zentral Präsenz zeigt, Verteidiger bindet und nicht auf Freiräume angewiesen ist, sondern sie sich durch Physis selbst schafft. Der Neuner als Anspielstation, als Wandspieler, als Turm im Getümmel – diese Rolle bekommt plötzlich wieder Wert. Nicht weil sich der Fußball zurückentwickelt hätte, sondern weil er sich weitergedreht hat. Trainer wie Thomas Tuchel, Mikel Arteta oder Carlo Ancelotti wissen: Gegen dichte Abwehrketten braucht es eine zentrale Struktur. Und das funktioniert am besten mit einem Stürmer, der das Zentrum besetzt, festigt und abschlusssicher ist – nicht trotz, sondern wegen des modernen Spiels.

Zielspieler 2.0: Was den modernen Neuner ausmacht
Der moderne Neuner ist kein bloßer Torabschluss-Experte mehr – sondern ein Bindeglied im Kollektiv, ein Impulsgeber, ein Raumverwalter. Der Zielspieler 2.0 vereint physische Präsenz mit technischer Qualität und taktischem Gespür. Seine Rolle ist nicht mehr eindimensional – er agiert nicht nur im, sondern mit dem System. Ballverarbeitung unter Druck, kluges Ablagespiel, das Einbinden von einrückenden Außen oder tiefstehenden Zehnern – all das gehört heute zum Grundrepertoire. Der moderne Neuner muss nicht nur Tore erzielen, sondern andere in Szene setzen, Räume öffnen, Gegenspieler binden. Und: Er ist oft die erste Pressinglinie im Spiel gegen den Ball – seine Laufwege prägen die Auslöser für das kollektive Anlaufen. Ein Blick auf aktuelle Protagonisten verdeutlicht das:
Erling Haaland bringt Urgewalt, Tiefgang und Abschlussstärke mit – aber er fügt sich auch in Guardiolas Kombinationsspiel ein, zieht Gegenspieler und schafft Räume für De Bruyne & Co.
Harry Kane verkörpert den Hybrid: Einer der besten Wandspieler Europas, dazu strategisch stark, lässt sich fallen, spielt den finalen Pass, ohne seine Torgefahr zu verlieren.
Olivier Giroud, lange unterschätzt, zeigte bei Milan und in der Équipe Tricolore, wie wertvoll Erfahrung, Ballbehauptung und Kopfballspiel sind – gerade in entscheidenden Spielen.
Rasmus Højlund steht exemplarisch für eine neue Generation: körperlich roh, aber mit Tempo, Spielwitz und dem Willen zur Integration in moderne Abläufe.

Interessant ist auch: Die einst gefeierte „falsche Neun“ ist rar geworden. Selbst technisch geprägte Teams wie Manchester City oder der FC Barcelona setzen wieder auf zentrale Stürmer mit klassischer Positionierung – jedoch mit modernen Aufgaben. Der Neuner ist nicht zurückgekehrt, um einfach Tore zu schießen. Er ist zurück, weil er heute mehr kann – und mehr muss.

 

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Bei der WM 2014: Ein typisches Klose-Tor gegen Ghana. Foto Pixathlon

 

Systemische Einbettung: Wie Trainer den Neuner heute einbauen
Die Renaissance des Neuners ist kein Zufall, sondern das Ergebnis gezielter taktischer Planungen. Moderne Trainer verstehen den Zielspieler nicht als Fremdkörper im Kombinationsspiel, sondern als organischen Bestandteil komplexer Systeme. Die Art und Weise, wie der Neuner eingebunden wird, ist dabei so vielfältig wie der Fußball selbst. In einem 4-2-3-1 dient der Neuner oft als klassische Anspielstation im Zentrum. Er lässt sich fallen, nimmt Druck vom Mittelfeld, legt ab auf den Zehner oder leitet in die Halbräume weiter. Gleichzeitig sorgt er durch seine Präsenz dafür, dass sich die gegnerische Innenverteidigung nicht zu weit vorschieben kann – ein taktisches Druckmittel, das Räume schafft. In Systemen mit Dreierkette (zum  Bei9spiel im 3-4-2-1) ist der Neuner noch zentraler. Er wird zum Fixpunkt, um den sich die beiden Halbzehner bewegen. Seine Aufgabe ist es, zwischen den Linien anspielbar zu sein, Bälle prallen zu lassen oder die gegnerische Kette zu binden. So entstehen Lücken, in die eingerückte Wingbacks oder offensive Achter stoßen können. Auch im Umschaltspiel ist der Neuner wertvoll: Nach Ballgewinn wird er gesucht, um den ersten Kontakt zu sichern. Von dort aus kann das Spiel schnell verlagert oder in die Tiefe weitergeleitet werden. Er ist also nicht nur Vollstrecker, sondern ein Schlüssel zur Raumüberwindung – besonders gegen Teams, die hoch pressen. Und nicht zu vergessen: Bei Standards wird die klassische Waffe wieder geschärft. Kopfballstarke Neuner geben Trainern wieder Optionen für Flanken, Ecken und zweite Bälle – Bereiche, die im datengetriebenen Spiel zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Ausbildung und Scouting: Kommt der klassische Stürmer zurück ins NLZ?
Lange Zeit war der klassische Mittelstürmer im Nachwuchsbereich kaum noch gefragt. Ausbildungszentren fokussierten sich auf Technik, Spielintelligenz und flexible Positionsprofile – besonders in Zentrale und Offensive. „Neuner“ galten als zu spezialisiert, zu schwer ins Kombinationsspiel zu integrieren. Viele Stürmertalente wurden auf Außen umgeschult oder in eine „falsche Neun“ gedrängt, wenn sie nicht sofort spielerisch überzeugten. Doch mit dem Comeback des Zielspielers auf Profiebene ändert sich langsam das Denken. NLZs und Scoutingabteilungen suchen wieder nach Stürmern mit Präsenz, Körpergefühl und Abschlussstärke. Die Fähigkeit, Bälle unter Gegnerdruck zu behaupten und Tore auch mit dem ersten Kontakt zu erzielen, wird wieder höher bewertet. Physis allein reicht nicht – gefragt ist ein komplettes Profil, das Technik, Raumverständnis und taktische Reife vereint. Scoutingplattformen und Datenanalysen helfen dabei, die passenden Spielertypen früh zu identifizieren: Wer bringt Körpergröße mit, aber auch ein gutes Passspiel? Wer erkennt Tiefenräume? Wer kann in engen Zonen agieren? Junge Stürmer wie Benjamin Šeško, Hugo Ekitike oder Randal Kolo Muani werden in diesem Kontext nicht nur wegen ihrer Torquote beobachtet, sondern wegen ihrer Anschlussfähigkeit an moderne Systeme. Auch Trainerakademien reagieren: Der Neuner wird wieder explizit trainiert – nicht als Einzelfigur, sondern als taktische Rolle mit Systemfunktion. Ein Umdenken, das in den nächsten Jahren den Spielertyp weiter verfeinern dürfte.

Fazit: Der Neuner ist nicht zurückgekehrt – er hat sich neu erfunden
Der Zielspieler war nie wirklich verschwunden – aber er war aus der Mode geraten. Heute kehrt er nicht als Kopie der Vergangenheit zurück, sondern als moderne Interpretation einer alten Idee. Der klassische Mittelstürmer hat sich angepasst: Er ist beweglicher, spielintelligenter, teamorientierter – und dadurch wieder relevant für den Spitzensport. Die Rückkehr des Neuners ist Ausdruck eines Fußballverständnisses, das Wucht und Struktur nicht als Gegensatz zur Spielidee sieht, sondern als integrativen Bestandteil eines flexiblen Systems. Er ist keine statische Figur mehr, sondern ein dynamisches Zentrum, das Räume schafft, Bälle verteilt und Angriffe vollendet. In einer Zeit, in der das Spiel zunehmend verdichtet und taktisch hochentwickelt ist, wird der Neuner zur Lösung komplexer Probleme – weil er Klarheit im Chaos schafft. Kein Rückschritt also, sondern ein Fortschritt: Der Zielspieler 2.0 ist Symbol für einen Fußball, der wieder mutiger ins Zentrum spielt – und dabei das Zentrum neu denkt.
 
 
 
 
 
 
 

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