KAHNS ABSCHIED
„Irgendwann kannst du den Stein nicht mehr rollen“
Der erfolgreiche Lyriker und Theaterautor Albert Ostermaier hat ein Buch über Oliver Kahn geschrieben: „Der Torwart ist immer dort, wo es weh tut“. Interview Malte Oberschelp und Jürgen Reuß.
RUND: Herr, Ostermaier, in Ihrer „Ode an Kahn“ würden Sie zu einer Flugeinlage des Torhüters gerne die Beach Boys einspielen. Wäre Rammstein nicht passender?
Albert Ostermaier: Mit ein wenig wohlwollender Ironie ist Kahn schon ein Wellenreiter. Mit Rammstein wäre er die Personifizierung des stahlharten blonden Deutschen. Eine solche Denunziation würde total konterkarieren, was eine Ode ist, nämlich eine Huldigung.
RUND: Warum besingen Sie gerade Oliver Kahn?
Albert Ostermaier: Die erste Ode an Kahn war meine Voodoo-Puppe für einen Bayernsieg im Champions-League-Finale gegen Manchester – das ging leider nach hinten los. Außerdem bin ich selber Torwart und mag die absurde Psychologie des Torwarts.
RUND: Und die wäre?
Albert Ostermaier: Der Torwart hofft, dass die Abwehr so stark ist, dass kein Ball durchkommt. Trotzdem wünschst du dir, dass die Gegner wenigstens mal aufs Tor schießen und du den Ball aus dem Winkel fischt. Man fiebert für die Mannschaft, aber auch für sich – der Torwart surft permanent auf dem schmalen Grat eines Zielkonflikts.
RUND: Bei Ihnen fliegt Kahn durch den Strafraum, boxt die Sonne weg und hinterlässt ein schwarzes Loch. Ein einsamer Held, der ...
Albert Ostermaier: ... eher ein Halbgott. Die Halbgötter in der Antike sind unheimlich spannend, weil sie zwar göttliche Kräfte besitzen, aber trotzdem sterblich sind, eine Achillesferse haben. Wenn man ein Foto im Moment des Fluges macht, sieht’s toll aus. Aber der Ball kann immer noch ins Tor gehen. Diese Momente, in denen Heldentum und Scheitern unglaublich nahe beieinander sind, machen den Torwart interessant. Er besitzt Fallhöhe.
RUND: Das Scheitern, besonders nach großen Erfolgen, interessiert sie. Im Buch tauchen einige Spieler und Mannschaften auf, die im Spiel oder im Leben tragisch gescheitert sind.
Albert Ostermaier: Man kann natürlich sagen, dass man als Bayern-Fan nach der 93. Minute von Barcelona traumatisiert ist und eine Nähe zum Scheitern hat. Aber ich glaube, dass der Fußball sehr viel mit der antiken Tragödie zu tun hat: Ein Held gewinnt immer mehr Fertigkeiten, wird zur übermenschlichen Projektionsfläche und kurz vor dem Höhepunkt, kurz bevor er in Bronze gegossen wird, erstarrt er zur Statue, verliert alles Menschliche. Er ist auf eine Art tot, weil er keine eigene Identität mehr hat, sondern nur noch eine öffentliche.
RUND: Und dann scheitert er als Überlebensreflex?
Albert Ostermaier: Genau. Deshalb versagen gerade die herausragenden Spieler in den entscheidenden Momenten. Ob das Beckham beim Elfmeter bei der EM ist, damals Uli Hoeneß oder Oliver Kahn 2002. Es geht ihnen wie Ikarus. Sie rücken immer näher zur Sonne und verbrennen sich die Flügel.
RUND: In der dritten Ode an Kahn greifen Sie dessen Lieblingsfilm über den nimmermüden Gefängnisausbrecher „Papillon“ auf. In welchem Knast steckt Oliver Kahn eigentlich?
Albert Ostermaier: Leistungssportler stecken schon seit frühester Jugend in einem Gefängnis, auch wenn das ein sehr luxuriöses sein kann. Sie sind klaren Ritualen, Regeln, Uniformierungen und Disziplinierungen unterworfen, dazu die Observierung durch die Öffentlichkeit. Jeder Ausbruch wird verfolgt, dann gibt es entsprechende Fotos im Boulevard. Es ist ein Gefängnis, das erst mit dem Karriereende aufhört.
RUND: Muss man sich den Papillon-Kahn als jemanden vorstellen, der seine Befriedigung aus immer wieder scheiternden Ausbruchsversuchen zieht? Als eine Art glücklichen Sisyphos?
Albert Ostermaier: Er sucht immer wieder neue Herausforderungen, will immer wieder den unhaltbaren Ball fangen. Aber irgendwann kannst du den Stein nicht mehr rollen, schon gar nicht auf den Gipfel. Das ist der wahre dramatische Moment, das Bittere an vielen Fußballerkarrieren. Sie werden nicht √† la Beckenbauer klug auf dem Höhepunkt beendet, sondern plätschern aus.
RUND: Jeder Fußballer endet im Unglück?
Albert Ostermaier: Im Unglück und im Rheuma. Die wenigsten schaffen es, sich eine Identität jenseits des Fußballs zu schaffen.
RUND: Herr Ostermaier, Sie müssen es wissen: Warum sind zuletzt so viele Gedichtbände zum Thema Fußball erschienen?
Albert Ostermaier: Durch die WM wurde so viel Geld für Fußball lockergemacht, dass viele über Fußball gedichtet haben, ohne eine Beziehung dazu zu haben. Es gab ein geradezu inflationäres Söldnertum in Sachen Fußballdichtung. Aber es gibt natürlich auch die große Tradition der Fußballlyrik von Ror Wolf und Ludwig Harig.
RUND: Was macht den Fußball so reizvoll?
Albert Ostermaier: Lyrik gilt als abgehoben und ungeheuer stilisiert. Fußball ist genau das Gegenteil. Bei Fußballern bleibt es meist beim Stammeln oder Hochsterilisieren. Plattitüden ohne Sprachniveau, ein Wühlen im Schmutz und Kommerz. Das macht den Sport als Gegenpol zur Dichtung wieder spannend.
RUND: Und wo gibt es Gemeinsamkeiten?
Albert Ostermaier: Für die Lyrik eignen sich besonders die schnellen Perspektivwechsel im Spiel, es gibt Flankenkombinationen, die wie ein Gedicht funktionieren, Kurzpässe zwischen Sätzen. Es können Sachen unvermittelt nebeneinanderstehen.
RUND: Sie schreiben: „Fußball lehrt eine Masse, in der Möglichkeitsform denken.“ Kommt die im realen Leben zu kurz?
Albert Ostermaier: Die Möglichkeitsform ist eine unglaublich wichtige, schöne und utopische Form. Es ist eine Sache, gegen Widerstände anzuschreiben, aber viel schwieriger, Möglichkeiten und Alternativen zu zeigen. Da ist der Fußball ein schönes Beispiel, weil man dort erleben kann, wie sich ein Spiel in kürzester Zeit dreht. Selbst wenn deine Mannschaft zehn Minuten vor Schluss 3:0 zurückliegt, hoffst du absurderweise noch auf den Ausgleich in der Nachspielzeit. Diese Energie des Hoffens ist eine sehr kostbare Kraft und wäre noch produktiver, wenn sie von der Möglichkeitsform zum Handeln führt. Wenn wir etwas wagen, statt Ist-Zustände zu halten.
RUND: Der Torwart muss aber den Ist-Zustand halten.
Albert Ostermaier: Als Torwart musst du dich in Situationen begeben, die sehr schmerzhaft sein können, und zwar ohne lange nachzudenken. Jede Sekunde, die du zögerst, lässt dich zu spät kommen. Diese Risikobereitschaft, diese Unmittelbarkeit ist etwas, die man sich auch für sein Leben wünscht. Schreiben ist ein ähnlicher Prozess, in dem ich eine Radikalität erfahre und suche, die zu schonungslosen Erkenntnissen über mich selbst führt, die ich in meinem Alltag aber nicht einlösen kann, weil dann die Feigheit da ist, die Bequemlichkeit, die Zwänge. Es wäre schön, wenn man das aus dem Fußball oder Schreiben mitnehmen könnte.
RUND: Sind Sie der kleine Junge, der in Ihrem Text „In den Wolken“ das tragische Ende des EM-Finales 1976 beschreibt?
Albert Ostermaier: Ja, das ist absolut autobiografisch. Für mich war es damals unglaublich traurig, dass mein Vater überhaupt kein Verhältnis zum Fußball hatte und mir verbot, in einen Verein zu gehen. Aber auf der Wiese hinter unserem Haus war ich der Torwart. Es war mein Traum, das auch im Klub zu spielen, vor allem nachdem ich Sepp Maier im Trainingslager im Nachbarort gesehen habe. Aber ich durfte nicht. Das hat mich getroffen.
RUND: Ein anderes Mal schreiben Sie: „Fußball heißt für einen Autor, sich vergessen machen, dass man es nicht geschafft hat, Fußballer zu werden.“ So tief sitzt der Stachel?
Albert Ostermaier: Dass ich Autor bin, ist der dritte Anlauf. Der erste Traum war, Nationaltorwart zu werden, der zweite Rockmusiker. Zum Glück habe ich wenigstens den dritten verwirklicht.
RUND: Und jetzt arbeiten Sie an der Synthese?
Albert Ostermaier: An der ganz großen, mit der Nationalmannschaft der Autoren. Jetzt muss mich ich nur noch irgendwann mal kräftig blamieren und meine Gitarre wieder umschnallen.
RUND: Was sind Sie für eine Sorte Torwart in der Dichterelf? Einer der Moritz Rinke ins Ohr beißt, wenn er nicht spurt?
Albert Ostermaier: Moritz Rinke würde das wohl als erotischen Anflug von mir deuten. Aber ich bin schon einer, der ganz deutlich zu seinen Vorderleuten ist. Aber da ich sonst jemand bin, der nie brüllt und es leider noch nicht geschafft hat, auch mal im Privaten laut zu werden, ist das sehr befreiend.
Albert Ostermaier: Der Torwart ist immer dort, wo es weh tut, Edition Suhrkamp, 114 Seiten, 7 €
Das Interview ist in RUND #17_12_2006 erschienen.
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