AUSLANDSREPORTAGE
„OM wird uns alle überleben“
Die Verehrung von Olympique Marseille ist die Voraussetzung, um in der Stadt geduldet zu werden. Doch wenn die Mafia die Aufstellung diktiert oder das Team schlecht spielt, hat mancher Spieler das Trainingsgelände schon im Kofferraum verlassen. Eine Reportage von Joachim Barbier und Christoph Ruf (Text) sowie Gerald von Foris (Fotos)
Nicht auszudenken, was das Trommelfell mitmachen müsste, wenn dieses Tollhaus auch noch überdacht wäre. Doch auch unter freiem Himmel vergeht Thomas Deruda Hören und Sehen. Nach fünf Sekunden erhält die Nummer 18 von OM zum ersten Mal den Ball, bei jedem Ballkontakt gellt von nun an ein schrilles Pfeifkonzert von den Rängen. Deruda muss am nächsten Tag eine Pressekonferenz geben, um die Fans zu besänftigen. Er sagt, dass er schon als Kind OM verehrt habe. Es wird ihm nichts nützen. Das Stade Vélodrome hat zu deutlich den Daumen gesenkt. Die 47.000 Zuschauer stehen auch heute gegen Valenciennes bedingungslos hinter ihrem Team. Es sei denn, es hat sich ein Spieler wie Thomas Deruda hineingeschlichen. Dessen Vater hat sich für den Geschmack der Fans ein wenig zu intensiv um die Karriere seines Sohnes gekümmert. Im Juli veröffentlichte „Equipe Magazine“ eine gut recherchierte Story über den Einfluss des kriminellen Milieus auf die Klubführung. Hauptbeschuldigter: Richard Deruda, der Vater von Thomas, den ein Lokaljournalist als „sehr gefährlichen Kleingangster“ bezeichnet. Deruda habe eines Abends an der Tür des damaligen Trainers Jean Fernández geklingelt und ihm zu verstehen gegeben, dass sein Sohn, der damals noch bei den Amateuren spielte, endlich einen Profivertrag unterschreiben müsse. Seine Argumente waren überzeugend: zwei muskelbepackte Bodyguards. Fast zur gleichen Zeit wurden mehreren OM-Spielern die Autos gestohlen. Unter anderem auch dem Portugiesen Delfim, dessen Stammplatz im defensiven Mittelfeld Deruda junior so gerne gehabt hätte. Delfim fand sein Auto einige Tage später vor der Schule, in die seine Kinder gingen. Er wechselte zu den Young Boys Bern.
Auch Trainer Luis Fernández, der Marseille nach Jahren der Tristesse wieder in die Champions League geführt hatte, brach im Sommer Hals über Kopf seine Zelte ab und flüchtete nach Auxerre. Dort, im idyllischen Burgund ist man seines Lebens sicher. Offiziell spricht Fernández nicht über die Gründe seines übereilten Abschieds aus Marseille. Dass er be-droht wurde, machte dennoch die Runde, sodass namhafte Trainer wie Didier Deschamps und Claudio Ranieri dankend ablehnten, die Nachfolge Fernández anzutreten. Stattdessen trainiert der brave Ur-Marseiller und ehemalige Cotrainer von Fernández, Albert Emon, nun OM. Und Deruda ist stets im Kader.
Das freut nicht nur Papa Deruda, sondern auch seinen Jugendfreund, den heutigen Sportdirektor José Anigo. „Mit Anigo erhält das Milieu Zutritt zur Entscheidungsebene des Klubs“, meint ein ehemaliger Vereinspräsident über Anigo. Undenkbar, dass Uli Hoeneß den Trainer von Bremen oder Schalke öffentlich als „Schwuchtel“ bezeichnet. Anigo kennt da keine falsche Scheu. Vor dem Ligacup-Finale in Paris zeigte er sich siegesgewiss und drohte in Richtung von Guy Lacombe, dem Trainer von Paris-Saint-Germain: „Ich werde ihm das Sperma aus dem Mund holen.“ Seit dem Samen-Eklat wimmelt Pressesprecher Grégory Cipriani alle Interviewanfragen für Anigo ab – mit einer Begründung, die Eingeweihte für fein ziselierten Sarkasmus halten: „José spricht nicht.“ Zumindest hätte das der Verein manchmal gerne. Pape Diouf, der als seriös und professionell geltende Präsident, mag dann auch nicht dementieren, dass Anigo mit seinen zahlreichen Loyalitätszwängen dem Erfolg im Wege steht. Der Zeitpunkt sich zu trennen sei allerdings nicht gekommen, „noch nicht“. In dem Maße wie Dioufs Aktien steigen, sinkt der Stern Anigos. Jetzt gilt es nur noch, den allmächtigen Gönner Jean-Louis Dreyfus zu überzeugen. Doch der Industrielle, der in den letzten zehn Jahren 200 Millionen Euro in OM investiert und damit in den Wind geschossen hat, hat sich noch nie mit der Alltagsarbeit aufgehalten.
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„Wer dem Licht gegenüber unempfindlich ist, wird Marseille nie verstehen“, hat Jean-Claude Izzo in seiner grandiosen „Marseiller Trilogie“ geschrieben. Sicher hat auch der vor fünf Jahren gestorbene Romancier öfter den Umweg über die Corniche Kennedy genommen, wenn er vom Stade Vélodrome in die Innenstadt zurückkehrte. Von der Uferstraße aus schweift der Blick über das tiefblaue Meer, das im November in einem fast unwirklich hellen Licht glitzert. An Mandel- und Olivenbäumen vorbei nähert man sich allmählich dem Alten Hafen, dem Wahrzeichen der Stadt.
Als Ludwig XIV., der Sonnenkönig, beschloss, die Hafenmauern zu befestigen, richtete er die Kanonen nicht aufs Meer, sondern auf die Stadt, die schon damals als Widerstandsnest galt. Seither hat sich an der Haltung der Marseiller gegenüber der Hauptstadt nichts geändert, wie Izzo plastisch zu Papier bringt: „Ich schere mich einen Dreck darum, was für ein Bild man sich in Paris oder sonst wo von uns macht. Für Europa sind wir immer noch die erste Stadt der Dritten Welt.“ In Marseille fühlt man sich als „Méditerranéen“, als Mittelmeermensch, dem Tunis und Algier näher sind als Paris.
2600 Jahre Geschichte: Der Alte Hafen ist das Wahrzeichen der Stadt
Das Leben hier spielt sich draußen ab, man nimmt sich Zeit. 27 Prozent der Marseiller leben unterhalb der Armutsgrenze, im Pariser Vorort-Département Seine-Saint-Denis, in dem regelmäßig Unruhen aufflammen, sind es 18. Und dennoch: Marseille ist kein zu groß geratenes Kreuzberger Straßenfest. Gerade im Marseiller Norden ist der Hass auf die Oberschicht spürbar, aber er ist weniger virulent als in anderen französischen Großstädten. Vielleicht, weil es hier weder Einheimische noch Fremde gibt. Nur Zugewanderte der ersten bis dritten Generation. Während Berliner Türken zu den drei Istanbuler Klubs halten und Hertha weitgehend ignorieren und bei Paris Saint-Germain der rechte Pöbel die Kurve regiert, gehen zu OM Menschen aller Hautfarben. Und das nicht erst seit 2004, als mit Pape Diouf ein gebürtiger Senegalese Präsident des Klubs wurde.
Der Text ist in RUND #18_01_2007 erschienen.
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