FC BAYERN
„Effe hat mich jeden Tag getreten“
Mit Manchester City spielt er in der Champions League gegen den FC Bayern. In einem RUND-Interview, das wir 2007 mit dem englischen Nationalspieler geführt haben, erinnert er sich an seine Ausbildungszeit in München. Interview Steffen Dobbert und Christoph Ruf.

Für England: Owen Hargreaves
Foto Urban Zintel


RUND: Herr Hargreaves, Sie spielen bei Bayern, seit Sie 15 Jahre alt sind. Wie kommt man als Teenager von Calgary nach München?
Owen Hargreaves: Das war alles ein riesiger Zufall. Ich war 13 Jahre alt und hatte mit meinem Heimatverein Calgary Foothills gerade ein Spiel. Wir waren damals die beste Jugendmannschaft in der Stadt, aber was heißt das schon? Jedenfalls sprach sich schnell rum, dass ein Trainer aus Deutschland im Publikum sei.

RUND: Im Sommer 1995 war Otto Rehhagel Trainer der Bayern.
Hargreaves: Ja, aber der war nicht bei uns in Kanada. Der Mann hieß Thomas Niendorf und war nach der Wende nach Kanada gezogen. Na ja, ich war ihm wohl positiv aufgefallen, er sagte, wenn ich so weiter mache und ein bisschen größer und älter werde, würde er ein paar Kontakte knüpfen nach Deutschland.

RUND: Dann kam der Wachstumsschub.
Hargreaves: Genau. Und wenig später fand ich mich mit 16 Jahren im Jugendinternat der Bayern wieder.

RUND: Plötzlich waren sie Tausende Kilometer von Ihrer Familie entfernt, von Ihren Freunden, ihrer Freundin.
Hargreaves: Schon, aber man ist mit 16 auch in einem Alter, in dem man denkt, man weiß alles und man kriegt alles hin. Ich habe außerdem schon mit zwölf Jahren versucht, etwas selbstständig zu sein, weil ich nicht nur vom Geld meiner Eltern leben wollte. Ich habe Zeitungen ausgetragen oder bei McDonald’s in der Küche gearbeitet. Diese Selbstständigkeit ist vielleicht eine Stärke von mir, es war im Nachhinein auch gut, dass ich so mutig war. Ich will jetzt aber nicht so tun, als sei das immer ganz leicht gewesen. Zumal ich damals kaum Geld hatte und nicht oft zu Hause anrufen konnte.

RUND: Internet- und Telefon-Flatrate kamen später.
Hargreaves: Das war auch gut so. Heute haben alle Jugendlichen Handys, sie können innerhalb von zehn Sekunden jeden auf der Welt erreichen. Damit verliert man den Willen, sich auch mal alleine durchzusetzen. Mit 16 ist man natürlich auch viel offener sich zu integrieren und die Sprache zu lernen. Ich bin in Kanada aufgewachsen, die Leute dort sind freundlich und offen. Vielleicht war ich auch deshalb aufgeschlossen für neue Erfahrungen.

RUND: Wie war Ihr erster Eindruck von Deutschland?
Hargreaves: Alles war anders, Kanada ist groß, offen. Wenn man da irgendwo hin möchte, muss man meist weite Wege zurücklegen. In München bin ich vom Flughafen abgeholt worden, es hat geregnet und der Fahrer hat wenig mit mir geredet. Es war also relativ ruhig und ich hatte viel Zeit alles zu beobachten. Damals kam mir alles irgendwie dunkel vor und die Straßen und Häuser viel enger zusammen.

RUND: Ebenfalls eine neue Erfahrung war es wohl für Sie, von morgens bis abends für den Fußball zu leben.
Hargreaves: Ja, in Kanada habe ich nur zweimal die Woche Fußball gespielt und deutlich weniger als Basketball, weil das Schulsport war und wir nach der Schule auch immer Basketball gespielt haben. Bei Bayern hatte ich von Beginn an sechsmal Training in der Woche und zum Glück gute Trainer, die mir gezeigt haben, wo meine Stärken und Schwächen liegen. Ich habe als 15-Jähriger in der U18 gespielt und mir gar nicht viele Gedanken über ein Scheitern gemacht. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass Bayern München meine Verpflichtung auch als Risiko eingestuft hat. Sie wollten nicht irgendwann gezwungen sein, jemanden mit 18 Jahren zurück zu schicken, der noch nicht einmal einen Schulabschluss hat, weil er alles dem Fußball untergeordnet hat.

RUND: Auch das Privatleben?
Hargreaves: Nicht ganz. So wie ich mich in Kanada verhalten habe, so habe ich mich auch in Deutschland verhalten. Man geht ab und zu aus. Wir sind mit der U-Bahn in die Stadt gefahren und hier und da mal in die Disco. Ich habe die Erfahrung gemacht, wie es ist wegzugehen. Man entscheidet dann, ob man es mag oder nicht. Für mich war das eher nichts.

RUND: Muss man sich das Leben in so einem Fußballinternat dann so vorstellen wie in einer Klosterschule?
Hargreaves: Auf keinen Fall. Wir sind doch auch ausgegangen und dabei nicht immer durch die Haustüre.

RUND: Ihr Verzicht hat sich gelohnt. Ottmar Hitzfeld hielt schon früh große Stücke auf Sie.
Hargreaves: Ich war damals noch ziemlich naiv. Ich dachte, die anderen würden mich unterstützen, wenn ich mir Mühe gebe, aber das war knallhart. Das waren halt noch ganz andere Typen: Carsten Jancker, Effe, Sami Kuffour, Thomas Linke, Patrik Andersson, Jens Jeremies. Ich habe viel einstecken müssen im Training. Hitzfeld hat das gesehen und mir signalisiert, dass er das gut findet, wie ich mich schlage.

RUND: Rüde Sitten.
Hargreaves: Aus deren Sicht ist das ja auch verständlich: Da kommt plötzlich ein 19-Jähriger, dem will man natürlich erst mal zeigen, was Sache ist. Die wollten eben testen, wie ich bin, ob ich zurückziehe. Effe hat mich jeden Tag getreten, jeden Tag. Aber er hat mich immer wieder aufgehoben. Irgendwann hat er gesagt: Mach weiter so, dann wirst du ein Großer.

RUND: Sie haben seinen Respekt gewonnen?
Hargreaves: Genau. Und da war eben auch Hitzfeld wichtig, der mich beiseite genommen hat und gesagt hat: Du machst das gut, das wird schon.

RUND: Das reichte, um Hitzfeld zum wichtigsten Trainer Ihrer Laufbahn zu machen, wie Sie einmal in einem Interview sagten?
Hargreaves: Es ist ja nicht so, dass man sich beim Training großartig austauscht. Kein Trainer der Welt spricht übertrieben viel mit einem 19-Jährigen. In jeder Mannschaft gibt es ja auch Hierarchien. Effe war ganz klar der Leader. Aber bevor Sie jetzt fragen, was Sie sicher gleich fragen: So einen gibt’s heutzutage nicht nur bei uns nicht mehr. Selbst Ballack war kein Leader, er ist ein großartiger Spieler, aber er ist vielleicht eher wie die anderen drei im Chelsea-Mittelfeld.

RUND: Hätten Sie das Zeug zum Leader?
Hargreaves: Ich habe ein etwas anderes Auftreten. Ich habe damals beobachtet, wie Effe das macht. Das war schon toll, in den großen Spielen war er immer da. „Die hau’n wir weg“ sagen kann jeder, nur auf dem Platz kommt dann bei vielen nichts mehr. In der Bundesliga können wir gegen jede Mannschaft gut aussehen, aber gegen die Großen, gegen Milan und Real, ist das schon was anderes. Genau in den Spielen war Effe da.

RUND: Warum ist der Typus Effenberg ausgestorben?
So einen Spieler, der die anderen zusammenscheißt, braucht man heute gar nicht mehr. Man muss nur die großen Mannschaften anschauen. Nehmen wir Baráa, da gilt Deco als Führungsspieler. Er ist aber eher ein ruhiger Typ. Verantwortung übernimmt man mit der Qualität seiner Entscheidungen und Aktionen.

RUND: Im WM-Viertelfinale haben Sie bestimmt, wo es langging.
Hargreaves: Ich wollte mir nicht vorwerfen, dass ich zu wenig gemacht habe, um zu verhindern, dass wir ausscheiden. In der Vorbereitung waren wir in Aserbaidschan und Mazedonien, wir haben alles getan, um uns zu qualifizieren, und in ein paar Minuten sollte nun alles umsonst gewesen sein? Ich habe gegen Portugal im Spiel zu Frank Lampard gesagt, wir müssen jetzt mehr machen. Man bekommt in solchen Spielen dann zusätzliche Energie, diese Stärke, diese starke Konzentration. Man ist irgendwo bei sich. Es war dann auch unser bestes Spiel bis dahin, es hat aber letztlich nicht gereicht.

RUND: Stimmt es, dass sich das Deutschlandbild der Engländer durch die WM zum Positiven gewandelt hat?
Hargreaves: Bei uns in der Mannschaft auf jeden Fall. Das Wetter war unglaublich, die ganze Atmosphäre war so locker, alle Spieler waren positiv überrascht. Unser Mannschaftsquartier, die Bühlerhöhe, war wie aus einem Märchen. Wir hatten eine halbe Stunde Fahrt zum Training, vorbei an wunderschönen Tannenwäldern. Irgendwann sagte mein Sitznachbar Gary Neville zu mir, das sei einer der schönsten Orte, die er je gesehen hat.

RUND: Wie stark schätzen Sie und Ihre englischen Kollegen die Bundesliga ein?
Hargreaves: Eine interessante Liga, eine gesunde Liga, das Interesse an ihr ist riesengroß, die Stadien sind voll.

RUND: Sie brauchen nicht so höflich zu sein.
Hargreaves: Im Vergleich zu England fehlen ein paar Topstars. Bayern München und Werder Bremen sind der Maßstab in Deutschland – genau in dieser Reihenfolge. Irgendwann kommt dann Stuttgart, Schalke, der HSV, dann wird’s schon schwierig. Hingegen sind unter den letzten acht in der Champions League gleich drei englische Mannschaften. Das ist der Unterschied.

RUND: Ihr Vater spielte bei den Bolton Wanderers. War das Ihr Lieblingsverein als Kind?
Hargreaves: In meiner Kindheit waren ManU und Liverpool immer die besten Mannschaften. Ich bin mit Liverpool aufgewachsen, mit Fowler, Barnes, die habe ich mit meinem Vater vor dem Fernseher gesehen. Ansonsten war immer Basketball mein Sport, bis zu meinem Wechsel nach Deutschland habe ich auch mehr Basketball als Fußball gespielt. Noch heute bin ich großer Basketballfan.

RUND: Sie schreiben sogar einen eigenen Blog über die NBA.
Hargreaves: Stimmt, und wenn ich mehr Geld hätte, würde ich vielleicht die L.A. Lakers kaufen.

RUND: So wie Roman Abramowitsch sich Chelsea gekauft und sich damit zum Feindbild vieler Fans gemacht hat.
Hargreaves: Das ist doch eine alberne Reaktion. Stell dir vor, du bist seit 20 Jahren Chelsea-Fan, deine Mannschaft gewinnt nichts Großes und plötzlich bist du Meister und Pokalsieger. Kein Chelseafan wird behaupten, dass ihn das unglücklich macht.

RUND: Sie haben noch nie in England gelebt. Können Sie sich dennoch mit dem Union Jack identifizieren?
Hargreaves: Meine Eltern trinken am Tag immer noch zwölf Tassen Tee. Das kriegt man auch nicht raus, wenn man in einem anderen Land lebt. Sie sind vor 20 Jahren von England nach Kanada gezogen, weil mein Vater dort einen Job bekommen hat. Wenn Sie meinem Vater sagen würden, er sei weniger englisch als jemand, der sein ganzes Leben in London gelebt hat, wäre er nicht einverstanden.

RUND: Das gilt auch für Sie?
Hargreaves: Ich arbeite in Deutschland, ich mag Deutschland. Aber da fehlt etwas die Bindung, meine ganze Prägung ist britisch.

RUND: Klingt nicht, als sei Ihnen München sehr ans Herz gewachsen.
Hargreaves: Oh doch! München ist ideal. Das Klima ist super, die Stadt sauber, die Leute respektieren meine Privatsphäre. Kurzum. Für mich ist das die beste Stadt, die ich bisher gesehen habe. Alle meine Familienmitglieder sind auch total begeistert von München. Sie sagen, sie würden sofort hierher ziehen, wenn sie die Sprache könnten.

RUND: Sie beherrschen sie beeindruckend gut. Würden Sie in 20 Jahren noch mal hierher kommen?
Hargreaves: Ich habe mir gerade hier ein Appartement gekauft. München ist in den letzten zehn Jahren zu meiner Heimat geworden. Es kann schon sein, dass ich nach meiner Karriere wieder in München leben werde. Auch wenn ich dazwischen einmal weggehen sollte.

RUND: Wissen Sie schon, was Sie nach dem Karriereende machen?
Hargreaves: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich im Fußballbereich bleiben werde. Wenn man jeden Tag das gleiche macht, möchte man danach vielleicht irgendwann etwas anderes machen. Ich würde gerne dann das einbringen, was ich zuvor im Fußball gelernt habe.

RUND: Ihre Freundin hat in den Vereinigten Staaten Kunstgeschichte studiert. Ist ihr die Umstellung nach Europa leicht gefallen?
Hargreaves: Anfangs überhaupt nicht. Sie hat zwischenzeitlich zwei Jahre bei mir in München gelebt, studiert jetzt aber in Florenz. Wir sehen uns nur jedes zweite Wochenende, immer wenn wir ein Heimspiel haben. Für sie war es schwer hier. Sie hatte vorher in Boston studiert und dann plötzlich nichts Eigenes mehr. Wenn man jung und ehrgeizig ist, will man auch etwas investieren, wissen, wozu man aufsteht. Und dann mit 25 nur noch zu Hause zu sein – das hält kein Mensch und keine Beziehung aus.

RUND: Es gibt viele Menschen, die es gut aushalten, lediglich Lebensgefährte eines Prominenten zu sein.
Hargreaves: Die können dann nicht sehr ehrgeizig sein.

RUND: Ihre Eltern leben in Kanada, Ihre Freunde in England, Ihre Freundin in Italien. Wie geht das überhaupt?
Hargreaves: Wenn man jung ist, möchte man mit jedem befreundet sein. Jetzt habe ich einen engen Freundeskreis und versuche mit dem mehr Zeit zu verbringen. Neue Freunde kennen zu lernen, ist als Profi nicht so leicht. Wer nicht meinen Job hat, versteht oft nicht, warum ich nicht mit ihm einen trinken gehe und mich die ganze Nacht amüsiere. Ich trinke einen Ginger Ale und gehe früh nach Hause, weil ich morgens um zehn aufmerksam beim Training sein muss.

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