INTERVIEW
„Die Null muss stehen? Da werde ich wahnsinnig!“
In Hans-Günter Bruns brodelt es. Wenn selbst einem „Fußballverrückten“ wie ihm, der viermal das Trikot der deutschen Nationalmannschaft trug und insgesamt zehn Jahre für Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga spielte, der Fußball langweilig zu werden droht, dann muss etwas schief laufen. Im Interview erklärt der 57-Jährige, was ihn so ärgert und übt massive Kritik an der Spielphilosophie vieler Vereine. Interview Elmar Neveling.
Erfolg mit Offensivfußball: Hans-Günter Bruns feierte im Sommer 2008 mit Rot-Weiß Oberhausen den Aufstieg in die Zweite Liga. Bis Ende November war er Trainer beim Regionalligisten Wuppertaler SV Borussia. Foto Pixathlon
Herr Bruns, was kritisieren Sie am heutigen Fußball?
Bruns: Im Vergleich zu meiner Profizeit ist das Spiel nicht nur deutlich athletischer geworden, sondern aus taktischer Sicht auch viel, viel defensiver. Häufig geht es nur noch darum, das gegnerische Spiel zu zerstören – und nicht, es selbst kreativ aufzuziehen. Insgesamt sind heute die meisten Mannschaften taktisch sehr gut geschult, schon bei uns in der Regionalliga. Sie machen die Räume eng und versuchen dann ausschließlich über Konter, schnell nach vorne zu spielen.
Den oft zitierten Ausspruch „die Null muss stehen“ mögen Sie also nicht sonderlich?
Bruns: Wenn ich das schon höre, werde ich wahnsinnig! Auch wenn der Spruch, „der Sturm gewinnt die Spiele, die Abwehr die Meisterschaft“, stimmt – muss ich ganz klar sagen: Sich hinten reinzustellen, das kann jeder. Aber offensiv eine kreative Idee zu entwickeln, das ist doch das Entscheidende. Das ist es, was den Fußball ausmacht. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Abwehr soll nicht vernachlässigt werden, die gehört zum Fußball genauso dazu. Aber um offensives Spiel geht es doch heute fast gar nicht mehr, bloß noch um die Defensive. Von hundert Spielberichten ist heute mindestens fünfzig Mal zu hören, dass die Mannschaften „hinten sicher standen“. Als ob das der einzige Sinn des Spiels wäre! Ich dachte immer, wir spielen Fußball, um Tore zu schießen.
Frage: Es gibt auch Gegenbeispiele wie den BVB, der die Balance zwischen begeisterndem Angriffsspiel und stabiler Abwehr sehr gut hinbekommt.
Genau das ist für mich Fußball, wie ihn die Dortmunder spielen! Es gibt wenige wie den Jürgen Klopp, der seine Mannschaft offensiv antreten lässt. Die Dortmunder sind nach vorne orientiert und stehen trotzdem hinten gut. Sie zeigen wunderbar, wie dieser Mittelweg funktioniert. Dagegen ärgere ich mich schwarz, wenn rein defensive Mannschaften mit ihrer Taktik erfolgreich sind, so wie der FC Chelsea im Champions League-Finale gegen die Bayern.
Selbst die Offensivkünstler aus Spanien sind bei der EURO 2012 wiederholt ohne einen einzigen echten Stürmer angetreten. Ist das der vorläufige negative Höhepunkt?
Bruns: Das war die logische Fortentwicklung der letzten Jahre. Mit den Offensivkräften ist es über die Jahre immer weniger geworden: Früher traten die meisten Teams mit zwei Stürmern an; bei der Europameisterschaft spielten nun bis auf Italien alle Mannschaften mit nur noch einem Angreifer. Jetzt hat Spanien aufgrund seiner unglaublichen spielerischen Dominanz sogar ganz auf einen Stürmer verzichten können. Vielleicht müssen die Platzwarte demnächst gar keine Tore mehr aufstellen. Das finde ich eine traurige Entwicklung, denn die Tore sind das Salz in der Suppe. Wenn mir als Fußballverrücktem beim Fußballschauen schon langweilig wird, dann ist das sehr bedenklich.
Aber ist die defensive Taktik, die zunächst den Gegner seiner Waffen beraubt, nicht ebenso ein legitimes Mittel des Fußballs wie das schnelle Angriffsspiel mit Forechecking?
Bruns: Legitim ja. Aber ist der heutige Fußball wirklich der, den wir wollen? Ein Fußball, in dem die Trainer aus Sorge um ihren Job blockiert sind und daher nur noch vorsichtig und defensiv denken? Ein Trainer ist heute ruckzuck entlassen, weil in diesem mittlerweile riesigen Geschäft ein ungeheurer Druck aufgebaut wird – durch die Zuschauer, das Umfeld der Vereine und vor allem durch die Medien. Verliert eine Mannschaft viermal, wird gleich die Entlassung des Trainers gefordert. So spielen manche Teams, selbst wenn sie hinten liegen, weiterhin ängstlich ihren Stiefel herunter. Nach dem Motto: „Lieber verlieren wir nicht hoch, als das Spiel womöglich noch gewinnen zu können.“ Mir fehlt der unbedingte Wille, ein Spiel mit aller Macht zu drehen. Daher passiert das auch selten. Jetzt spielen fast alle so abwartend und zögerlich, um halbwegs über die Runden zu kommen. Wobei das Blödsinn ist, denn es wird immer mal Niederlagen geben.
Sie kritisieren die Rolle der Medien. Doch entlassen wird ein Trainer von den Verantwortlichen im Verein. Liegt es nicht an ihnen, mehr Geduld zu zeigen?
Bruns: Die Medien üben den Druck aus und in den Vereinen wird dem allzu schnell nachgegeben. In vielen Vereinen herrscht null Charakter, weil in den Aufsichts- und Verwaltungsräten oft Leute sitzen, die zwar entscheiden, aber vom Fußball gar keinen Plan haben. Und so kommt eins zum anderen. Da werden von diesen – aus meiner Sicht ahnungslosen – Leuten Entscheidungen getroffen, die die Qualität des Trainers gar nicht mehr berücksichtigen. Es geht nur noch darum, ob ein Trainer gerade erfolgreich ist oder nicht – und nicht mehr um seine grundsätzliche Eignung. So hat sich gerade in der ersten und zweiten Liga ein richtiges Trainerkarussell entwickelt.
Einen Ausweg aus dieser Entwicklung …
Bruns: … gibt es meines Erachtens nicht mehr, dafür ist sie auch finanziell schon zu weit fortgeschritten. Der Druck entsteht schließlich durch das Milliardengeschäft Fußball, wie wir es heute kennen.
Den gestiegenen Druck bewerten Sie demnach als entscheidende Ursache für die defensive Entwicklung des Fußballs?
Natürlich, deshalb will niemand mehr etwas riskieren. Leider beobachte ich diese Entwicklung nicht nur in den Profiligen. In jeder Klasse, auf jedem Niveau, egal ob in Kreis-, Bezirks-, Verbands- oder Landesliga, gibt es gute Mannschaften, die nach vorne spielen. Sie müssten viel mehr gefördert werden. Doch ich schaue mir auch unsere A-Jugend oder unsere zweite Mannschaft an. Bei ihren Gegnern geht es fast nur darum, hinten dicht zu machen, anstatt eine offensive Spielidee zu entwickeln. In der Regionalliga treffen wir auch auf einige zweite Mannschaften der Bundesliga-Klubs. Die haben früher Gas gegeben und nach vorne gespielt, Tore geschossen. Heute agieren sie defensiver als alle anderen Teams in der Liga. Schon hier ist die veränderte Philosophie zu erkennen.
Wobei auch die Gladbacher zu Ihrer Spielerzeit gerne auf Konterfußball gesetzt haben …
Bruns: Das stimmt, aber wir haben bei Ballgewinn jeden Weg nach vorne gesucht – und zwar nicht nur mit zwei, drei Mann, wie es heute oft üblich ist, sondern haben einen Konter mit fünf, sechs Mann gefahren. Das ist schon ein Unterschied.
Sie wünschen sich für Trainer weniger Druck seitens der Öffentlichkeit. Und was erhoffen Sie sich von Ihren Trainerkollegen?
Bruns: Dass sie das Spiel als kreative Herausforderung betrachten. Ein Trainer sollte seiner Mannschaft zu Eigeninitiative anhalten. Abzuwarten, das Spiel zu zerstören, um dann erst selbst aktiv zu werden – das ist der einfachere Weg, der leider meist gewählt wird. Das finde ich total schade. Zweifellos gibt es einige gute, innovative Trainer wie Jürgen Klopp – aber insgesamt sind das aus meiner Sicht noch viel zu wenige.
Was macht denn einen guten Trainer aus?
Bruns: Entscheidend ist nur, welche Inhalte er trainieren lässt, sondern vor allem, dass er diese Inhalte auch vermitteln kann. Es mag hunderttausende Fußballbücher und Trainingspläne geben, aber sie im Alltag mit Leben zu füllen, ist etwas ganz anderes. Aus meiner Sicht braucht vierzig bis fünfzig Prozent dieser Lehrbücher kein Mensch. Auch was ich damals in meiner Ausbildung zum Fußballlehrer in Köln gemacht habe, davon benötige ich maximal dreißig bis vierzig Prozent. Sicherlich kommt mir meine Zeit als Profispieler entgegen, denn wenn man die Dinge als Aktiver selbst erlebt hat, lassen sie sich auch besser weitergeben.
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