INTERVIEW

Eine fundamentale Zäsur“

Sechs Jahre nach dem Verbrechen gegen Borussia Dortmund: In der sehenswerten Doku „Der Anschlag“ berichten Profis, die im Mannschaftbus saßen, und Ermittler, was am 11. April 2017 geschah. Filmemacher Markus Brauckmann über die Recherche und eine imposante Detektivleistung eines BVB-Fans. Interview Matthias Greulich.

 

tatortfotoDer Mannschaftsbus von Borussia Dortmund am Abend des 11. April 2017

 



RUND: Herr Brauckmann, wie sehr wirkt der Anschlag vom 11. April 2017 bis heute bei Borussia Dortmund nach?

Markus Brauckmann: Ich glaube, unser Film lebt auch davon, dass es uns erstmals geglückt ist, das Vertrauen von vier Spielern aus dem Bus für ein ausführliches Gespräch vor der Kamera zu gewinnen. Dafür sind mein Kollege Christian Twente und ich sehr dankbar. Wenn ich mir dann anhöre, was Nuri Sahin, Roman Weidenfeller, Julian Weigel und Sokratis offenbaren, ist man gut beraten, zu glauben, dass da tatsächlich etwas nachgewirkt hat. Im Grunde sind das junge starke Männer, die damals vor einer veritablen Herausforderung standen: Nämlich das Ganze ein Stück weit hinter sich zu lassen, um weiter spielen und – eigentlich kein schönes Wort – funktionieren zu können. Ich denke, dass diese Tat aber eine solch fundamentale Zäsur war, die man unmöglich mal eben wegdrücken kann. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass die Produktion dieser Doku kurz nach dem Anschlag kaum möglich gewesen wäre. Es war gut, dass fünf oder sechs Jahre ins Land gegangen sind, damit man überhaupt eine Rückschau zusammen wagen kann.


RUND: Wie groß ist der Unterschied zwischen den Menschen, die im Bus saßen, und den anderen?

Markus Brauckmann: Man darf nicht vergessen: Wir hatten es hier für alle Beteiligten mit einer Ausnahmesituation zu tun. Darauf hat sich niemand vorbereiten können, keiner hatte eine Bedienungsanleitung für den Umgang damit. Nehmen wir zunächst die bereits erwähnten Spieler: Sie waren ein Stück weit traumatisiert, sie sind die, und das setze ich bewusst in Anführungszeichen: „Opfer“. Das tue ich deshalb, weil dieser Begriff eigentlich nicht zu Fußballprofis passt, die stark sein müssen und wollen. Und außerhalb des Busses? Da will ich gerne eine Lanze für das Management brechen. Ein Entscheidungsträger wie Hans-Joachim Watzke muss plötzlich damit klarkommen, dass Zehntausende im Stadion sind und er nicht weiß, was als Nächstes passieren wird. Zur Erinnerung: In Paris war damals der Anschlag auf das Fußballländerspiel erst der Auftakt zum Morden. Da war folglich in Dortmund die Frage nicht allzu weit hergeholt, ob vielleicht etwas auf den Zufahrtswegen oder sonstwo in der Stadt passieren würde oder könnte. Mit all dieser Ungewissheit sitzt Du als Entscheider dann in einem fensterlosen Krisenstabsraum im Bauch des Stadions und machst es so gut, wie es eben möglich ist. Klar ist auch, und damit kommen wir zurück zu Spielern und Staff: Diejenigen, die im Bus saßen, erleben an diesem Abend etwas so Einschneidendes, etwas so Furchtbares, dass wir Betrachter uns das gar nicht umfassend vorstellen können. Christian Twente und ich haben jetzt anderthalb Jahre an diesem Film gearbeitet, und in diesem Zeitraum haben wir ein großes Verständnis für die Spieler, das betroffene Personal, die Entscheidungsträger und die Ermittler entwickelt. Stellen Sie sich vor: Wie groß der Druck auf Letzteren war, der auf ihnen lastete, diesen Fall schnell zu lösen – und mit der Situation umzugehen.

 

 „Der Anschlag“ von Markus Brauckmann und Christian Twente ist ab dem 10. April 2023 beim Bezahlsender Sky Crime und über dessen Streamingdienst Wow zu sehen.

 



RUND: Einer Ihrer Interviewpartner war nur Insidern bekannt. Wie haben Sie herausgefunden, dass der österreichische BVB-Fan und Aktienexperte Rudolf Scheuchl schon früh den richtigen Riecher zum Tatmotiv hatte?

Markus Brauckmann: Es gab Hinweise, dass es jemanden gab, der mit einem persönlichen Tipp geholfen hatte, den Fall zu lösen. Der Rest war Recherchehandwerk unseres Teams. Ich habe dann anschließend drei Stunden bei Rudolf Scheuchl in der Küche in Bad Ischl gesessen. In diesem Vorgespräch hat er mir Nachhilfe in Sachen Finanzen gegeben. Damals habe ich begonnen zu verstehen, was Optionen und Put-Optionen sind. Angefangen mit der Erkenntnis, dass man mit sinkenden Börsenkursen Geld verdienen kann, was dem Durchschnittsbürger auch nicht unbedingt geläufig ist. Ich habe also ganz viel in Österreich gelernt, in diesem Gespräch auf der Küchenbank.


RUND: Hat Scheuchl durch seinen Tipp die Ermittlungen beschleunigt?

Markus Brauckmann: Um das richtig einzuschätzen, würde ich gerne in diese Zeit im April 2017 zurückgehen. Sobald damals ein schreckliches Attentat in dieser Größenordnung passierte, war der nachvollziehbare Reflex, dass es sich wahrscheinlich um islamistische Terroristen bzw. den IS handelte. Die Anschläge von Paris und Nizza sowie weitere Taten haben dazu beigetragen, dass die Öffentlichkeit fast schon automatisch in diese Richtung gedacht hat. Dazu kam das auch im Film erwähnte Bekennerschreiben, was zunächst auf den IS hinwies. Die Behörden ermittelten vom Start weg in alle Richtungen. Das reichte vom IS über Rechts- und Linksextreme sogar bis zur internationalen Wettmafia. Man hat sich also sehr, sehr viel angeschaut. Ich möchte die Ermittler ausdrücklich in Schutz nehmen. Ein solches Verbrechen hatte es in der Bundesrepublik zuvor noch nie gegeben. Man muss sich das nochmal vor Augen führen: Jemand attackiert mit Sprengsätzen eine Fußballmannschaft, deren Verein börsennotiert ist, um damit aus Geldgier ein Vermögen zu machen. Das war im Wortsinne: unglaublich.


RUND: Ein wichtiger Tippgeber war der BVB-Fan aber dennoch?

Markus Brauckmann: Absolut. Ich glaube, die überragende Leistung von Rudolf Scheuchl, die ihn zum Sherlock Holmes dieses Falles macht, liegt darin, dass er der Erste war, der verstanden hat, dass ausgewählte Bewegungen der Börsenkurse und dieser blutige Anschlag zu ein- und derselben Straftat gehören, quasi zwei Seiten einer Medaille sind. Darin liegt die imposante Detektivleistung. Darauf kann man nur kommen, wenn man sich gleichzeitig für zwei Sachen interessiert und dort im Stoff ist: Beim Thema Finanzen/Börse sowie beim Thema BVB. Es ist ein schöner Zufall, dass Rudolf Scheuchl gleichzeitig Finanzexperte und ein glühender BVB-Fan ist. Sonst hätte er diese beiden Puzzleteile nicht so zusammenfügen können.

 

Rudolf ScheuchlBVB-Fan aus Bad Ischl: Rudolf Scheuchl

 



RUND: Der Tatplan erschien wohl jedem, der ihn nach dem Anschlag zum ersten Mal hörte, als aberwitzig.

Markus Brauckmann: Genau. Wenn ich Ihnen das damals erzählt hätte, hätten Sie gedacht, das sei Fiction. Man denke nur an den Hollywoodspielfilm „Ocean‘s Eleven“. Darin wird eine Gruppe von Spezialisten für ein Verbrechen angeheuert, die alle auf ihrem Gebiet jeweils Experten sind. Wenn man sich den Anschlag anschaut, müssen sie – um nur die wichtigsten Dinge zu nennen – das Opfer ausführlich beobachtet haben; sie brauchen das Wissen, um Sprengsätze zu bauen; sie müssen an die Materialien kommen, und zwar so dass es keiner merkt; sie brauchen Geld, um zu investieren; sie brauchen einen Ort, um die Sprengsätze zusammenbauen können; sie müssen die platzieren, ohne dass sie jemand sieht. Und schließlich: Sie müssen das Ziel, das sich ja bewegt, im Auge behalten und gleichzeitig die Bombe zünden. Man kann also durchaus zu dem Schluss kommen, dass dies mehrere Täter im Verbund gewesen sein müssen. Die Ermittler haben uns berichtet, dass es in der Ermittlergruppe eine angeregte Diskussion gab, ob das überhaupt einer alleine gewesen sein könne. Einige haben sich das aus den genannten Gründen zunächst kaum vorstellen können.

 

Nuri Sahin„Ich dachte das ist ein Attentat“: Nuri Sahin

 



RUND: Blicken wir auf das Spiel Dortmund gegen Monaco: Olaf Meinking, der Berater von Thomas Tuchel, hat in einem Podcast die Frage aufgeworfen, wie der FC Bayern mit der Ansage der Uefa am nächsten Tag zu spielen umgegangen wäre. Gab es aus Ihrer Sicht eine Chance für den BVB, seine Arbeitnehmer zu schützen und sich darauf nicht einzulassen?

Markus Brauckmann: Das ist spekulativ, dazu will ich nicht Stellung beziehen. Was der FC Bayern München angesichts einer solchen Ausnahmesituation getan oder nicht getan hätte, weiß ich nicht. Jeder andere Arbeitnehmer hätte wahrscheinlich am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheinen müssen. Die Spieler waren durch die Tat mental erheblich belastet und mussten nicht mal 24 Stunden später im grell ausgeleuchteten Rampenlicht vor 66.000 Fans im Stadion und Millionen an den Bildschirmen wieder auftreten. Nuri Sahin sagt im Film sinngemäß, er gehe davon aus, dass keiner der Beteiligten wirklich spielen wollte. Aber sie wollten halt auch gleichsam ihre Pflicht erfüllen, auch um ein Zeichen zu setzen. Es gibt hier kein einfaches Schwarz oder Weiß. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es in dieser Situation keine perfekte Lösung gab. Man konnte nur versuchen, es unter den schwierigen Umständen so gut wie möglich zu managen.


RUND: Glauben Sie, dass man mit der Erfahrung von 2017 das Spiel wieder einen Tag später ansetzen würde?

Markus Brauckmann: Man neigt ja fast dazu, zu sagen, dass man es heute anders machen würde. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. Denken Sie zum Beispiel daran, dass der dänische Spieler Christian Eriksen vor fast zwei Jahren bei der EM vor Millionen Zuschauern beinahe auf dem Platz gestorben wäre. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Frau und meinem jüngeren Sohn das Spiel der Dänen gegen Finnland geguckt haben. Wir waren geschockt. Man hat befürchtet, dass Eriksen es vielleicht nicht zurück ins Leben schafft. Grausam. Gottseidank hat er überlebt. Aber am nächsten Tag wurde wieder gekickt und völlig indisponierte Dänen verloren gegen Finnland. Hat man dazugelernt? Ich weiß es wirklich nicht.

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