WM 1974

Der verschollene Bus der Weltmeister

1974 fuhr die bundesdeutsche Mannschaft mit einem gelben Bus zur WM-Triumph. Später brachte er Lehrer in ferne Länder, bis er verkauft wurde. Jetzt hätte man ihn gerne wieder, seine Spur aber hat man verloren. Von Klaus Ungerer

 

 

Klimaanlage, Garderobe, Kühlschränke und Beinfreiheit: Der WM-Bus von 1974 war seiner Zeit weit voraus Foto Hübner

 

Einmal wollte der Busfahrer Johannes Hübner einen Mythos fotografieren. In Ostia Antica war das, der Hafenstadt des alten Rom. Die Touristengruppe aus Deutschland war dem Reisebus entstiegen, hatte sich über die Sehenswürdigkeiten verteilt und in den historischen Boden vertieft. Johannes Hübner wusste, jetzt hatte er Zeit für ein Foto. Er fuhr seinen Bus zum Meer hinunter und stellte ihn am Strand so ab, dass es aussah, als würde er sich auf einer Sandbank aus den Fluten erheben. Quietschgelb spiegelte er sich in den Mittelmeerwellen. „Super Fotos waren das“, sagt Hübner noch heute. Dabei hat er die Bilder nie gesehen. Kurz nach der Session wurde er mit dem Bus an einer Ampel aufgehalten, wurde abgelenkt, während ein dreister Mensch hineinwutschte, zielsicher hinter den Fahrersitz griff und mitsamt der Nikon und dem noch eingelegten Film verschwand.

Es war nicht irgendein Bus. Es war der Bus, mit dem wir Weltmeister wurden. „Wir“ im Sinne von: Herr Beckenbauer, Herr Schwarzenbeck, Herr Breitner und wie sie alle heißen. In einer Mercedes-Sonderanfertigung ließen die sich 1974 von Malente aus umherkutschieren, vom Auftaktgewürge via Wasserschlacht bis ins Endspiel, wo sie dann die gewannen.

Vielleicht gab ja der Bus den Ausschlag: 26 Sitze statt 48 sorgten für Beinfreiheit und luden zur Nutzung ihrer Liegeposition, es gab eine Garderobe, eine Toilette, eine große Küche, Kühlschränke vorne und hinten. Auch hatte Daimler eine riesige Klimaanlage spendiert, die ihrer Zeit weit voraus war und zukünftigen Lichtgestalten, Erfolgsmanagern und Fernsehexperten frische Luft durch die wachen Geister pustete.

Möglicherweise war es gerade dieses luxuriöse Extra, das den Bus später in dunkle Kanäle locken, das ihn in unzugänglichen Weltregionen verschwinden lassen sollte.
„Mit der Klimaanlage war der geradezu prädestiniert für afrikanische Länder“, meint Johannes Hübner, der frühere Busfahrer, der heute Pressechef beim AvD ist, dem Automobilclub von Deutschland. Nach der WM fuhr Hübner den Bus viele Jahre lang für das Frankfurter Unternehmen „Gauf Reisen“, bis der Mitte der 1980er-Jahre ausrangiert und verkauft wurde – wohin, weiß heute keiner mehr.

Erst in den verganenen Jahren hat man sich seiner wieder verstärkt erinnert. Bei DaimlerChrysler setzte sich seit 2003 die Meinung durch, zur Begrüßung der 2006er-WM ein Stück von der 1974er-WM vorzeigen zu müssen, auch ein neues Museum ist in Planung. Da könnte man doch toll den originalen Weltmeisterbus vorzeigen, wurde beschlossen. Dann suchte man das gute Stück. Suchte. Und suchte.

Der Weltmeisterbus schien sich aber aufgelöst zu haben. Eine deutsche Schule in Prag soll ihn besessen und nach Russland verkauft haben. Stimmen wurden eingeholt, die von seinem Ende in Kabul berichteten: Er ruhe dort auf einem Autofriedhof. Auch Zaire, Kuba und die Türkei wurden dann und wann ins Spiel gebracht. Der Bus aber, mit Klimakasten und Riesenaufschrift: „BR Deutschland“, blieb unauffindbar.

 

Der Blick nach vorne, die Hände am Steuer: Johannes Hübner lenkte den Bus der Weltmeister bis Mitte der 1980er-Jahre Foto: Daniel Cramer

 

Als Johannes Hübner in den 1970er-Jahren mit dem Bus herumfuhr, war ihm Aufmerksamkeit sicher. Auf Rastplätzen kamen die Leute sofort herbei, Busfahrerkollegen und Touristen bestaunten das Prachtfahrzeug und machten Fotos. Einmal sichteten sie einen Passagier, der Bernd Hölzenbein ähnlich sah, und baten ihn um Autogramme – „Da konnte der natürlich schlecht nein sagen.“ Auch die Mitreisenden selber ließen sich gern berauschen vom Nimbus des Gefährts: Innen hing ein Übersichtsplan, welcher WM-Held wo gesessen hatte, zusätzlich waren die Sitze mit entsprechenden Namensschildchen versehen. Für Fanreisen war der Bus der Hit, auch charterten kleinere Vereine ihn gerne für Auswärtsfahrten. Heute gälte der Bus als Kultobjekt und wäre entsprechend teurer. „Für uns war der eher ein Ausweichvehikel“, sagt Hübner, „wenn mal kleinere Gruppen losfuhren von 20, 25 Personen.“  Meistens waren das Lehrer, und meistens waren sie auf Bildungsreise. Für die besonderen Vorzüge des Nationalbusses waren sie durchaus empfänglich: „Mit diesem Bus konnte man urdeutsche Pausen machen. Statt in Italien zum Italiener zu gehen, hatten wir Sandwiches, Würstchen, Ravioli und alles mit an Bord. Mittags stellten wir den Bus irgendwo im Schatten ab, die Reisenden machten ihre Besichtigung, und in der Zwischenzeit konnten wir für sie kochen. Sogar eine Kaffeemaschine gab es! Das war damals der Inbegriff von Luxus.“

So pries der Bus die deutsche Tüchtigkeit in ganz Europa: Wir hatten uns den Weg zum Titel gebahnt, und dieses Produkt deutscher Schaffenskraft war unser Gefährt. Überall wurde der Triumphwagen mit freundlichem Interesse empfangen; in Skandinavien, Frankreich, Jugoslawien kamen die Menschen herbei und zollten Anerkennung.

Nur eine Nation zeigte dem gelben Wunderbus dann und wann die Zähne, als wäre die Welt beim WM-Halbfinale 1970 stehen geblieben: Italien. Nicht nur, dass der Mythos vom Kamera klauenden Italiener stärker war als Hübners Wunsch nach einem Traumfoto vom Bus, der sich scheinbar auf einer Sandbank aus den Fluten erhebt. Im aktiven Straßenverkehr  von Ravenna musste Hübner sein schwerstes Match liefern. Im Jahr 1976 kurvte Hübner mit einer Reisegruppe dort umher, es war die Zeit des Terrors, und auf dem Bus prangte nach wie vor „BR Deutschland“. Für den minder informierten Beobachter ließ sich hier also eine gut organisierte, wohlhabende Abspaltung der Roten Brigaden („Brigate Rosse“ = „BR“) vermuten, und in Nullkommanix hatte Hübner Verfolger: Junge Italiener preschten auf Motorrädern hinter ihm her, rote Farbeimer mit sich führend, die sie aus voller Fahrt gegen den Bus kippen wollten. Eine filmreife Verfolgungsjagd hob an, die in unterschiedlich gelungenen Bremsmanövern ihren Höhepunkt und im WM-Bus ihren strahlenden Sieger fand: Einer nach dem anderen waren die einheimischen Offensivkräfte von ihren Motorrädern geplumpst oder doch wenigstens ihrer Farbeimer verlustig gegangen.

Vor der Weiterfahrt nach Monte Cassino kaufte Hübner Alufolie und Paketklebeband ein. Der Weltmeisterschriftzug wurde unschädlich gemacht, silbern glänzende Rechtecke verdeckten ihn schließlich, schön ordentlich geklebt wie vom Dachdeckermeister.

 

Der verschollene Bus mit einer Reisegruppe Foto Hübner

 

Johannes Hübner hat den Bus schon vor der WM 1974 die Frankfurter Kennedy-Allee hinunterparadieren sehen, er hat viel Arbeitszeit in ihm verbracht, manchmal stupst das treue Gefährt noch heute in sein Leben hinein. Vor ein paar Wochen rief ein Kollege an, es war abends nach zehn, der Kollege sagte: „Der Bus ist im Fernsehen!“ Da lief eine ARD-Dokumentation über die 74er WM. Für Hübner war das ein Programmhöhepunkt: Immer wieder war der Bus in Zwischenschnitten zu sehen, die Spieler äußerten sich über ihn. Johannes Hübner sagt: „Da habe auch ich noch dazugelernt.“

Ob er am 7. September 2005 wieder dazulernen kann, bleibt zweifelhaft. Da spielt Deutschland gegen Südafrika in Bremen, und im Umfeld des Spiels soll ein quietschgelber Nostalgiebus mit dem Schriftzug „BR Deutschland“ anrollen. Er soll zusammen mit der Nationalmannschaft für ein Foto posieren. Und so wie die Huths, Frings’, Wörns’ ihre Verdienste haben, so hat auch dieser Bus schon einiges geleistet: Ausdauernd ist er von 1972 bis 1990 mit Ausflüglern über Sylt und nach Dänemark getuckert, war danach als liebevoll gepflegter Oldtimer der Augenstern der Pinneberger Verkehrsgesellschaft. Bis DaimlerChrysler nach vergeblicher Suche nach dem Original ihn dort Anfang des Jahres losgeeist hat und umgebaut hat zum Weltmeisterbus: Falttür raus, Linienbestuhlung raus, Lackierung drauf, und so weiter. Das hat der Bus alles wacker mitgemacht, und er wird sich gut machen in seinem neuen, alten Glanz, dieser Pinneberger Kollege. Zum Titelgewinn von 1974 aber, da muss man ehrlich sein, hat er weniger beigetragen als Günter Netzer. 
 

Der Text ist in RUND #2_09_2005 erschienen. 

Letzte Heimat Kabul: Auf einem Autofriedhof der afghanischen Hauptstadt soll der Bus verschrottet worden sein Foto: Noshe

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