Fundstück
Anstoß zum Kalten Krieg
Ein Stadionprogramm des FC Chelsea erzählt vom ersten Besuch einer sowjetischen Mannschaft auf der britischen Insel. Im November 1945 empfingen die Londoner Stalins Vorzeigeklub Dynamo Moskau – der Auftakt einer Fußball-Reise voller versteckter Fouls und Missverständnisse. Von Carsten Germann
Welcome auf kyrillisch: Das Stadionheft des FC Chelsea begrüßt das Kollektiv des sowjetischen Meisters Dynamo Moskau. Foto: Benne Ochs
Ron Hockings verwaltet mit viel Liebe zum Detail das historische Material des englischen Meisters FC Chelsea London. Zu den Unterlagen, die der Hobby-Golfer aus East Sussex über viele Jahre zusammengestellt hat, gehört auch ein Stadionprogramm aus dem Spätjahr 1945. Die damals zwei Pence teure, vier Seiten umfassende Zeitung kündigt das erste Gastspiel eines sowjetischen Vereins auf der britischen Insel an.
Die Tournee des Sowjet-Meisters Dynamo Moskau durch Großbritannien im November 1945, mit vier Spielen gegen den FC Chelsea (3:3), Cardiff City (10:1), den FC Arsenal (4:3) und die Glasgow Rangers (2:2), stand sportlich wie politisch unter keinem guten Stern. Die Briten wurden im Oktober 1945 per Post von dem Vorschlag, einen Vergleich zwischen britischen Teams und Dynamo Moskau zu wagen, regelrecht überrumpelt. Viele namhafte britische Spieler waren im Krieg gefallen oder noch bei der Armee. Stalins Stars von Dynamo Moskau waren vom Militärdienst befreit. Auf sowjetischer Seite dominierten ideologische Aspekte. Vor der Abreise gebot Geheimdienstchef Lawrenti Beria, „den Vertretern der kapitalistischen Ordnung auf keinen Fall etwas zu überlassen“. Ein Unentschieden, so der Befehl vom Chef an die Dynamos, sei „das Äußerste“, was man den Briten gestatten könne. Und Dynamo-Coach Mikhail Yakushin erklärte süffisant: „England ist das Mutterland des Fußballs, und es gibt keinen Zweifel daran, dass die besten Spieler der Welt aus England kamen.“ Eine Vergangenheitsform, die britischen Zeitungskommentatoren sauer aufstieß. „Es ist möglich, dass sich die Russen mit einem Spiel gegen uns keinen Gefallen tun“, schrieb Frank Butler, Fußballkorrespondent des „Daily Express“.
„Wir, die Verantwortlichen, Spieler und Fans des FC Chelsea heißen alle Spieler und Offizielle von Dynamo Moskau herzlich willkommen. Wir gratulieren ihnen zur Meisterschaft und wünschen einen angenehmen Aufenthalt auf dieser Insel“ – so hieß es im Grußwort auf der Titelseite der Stadionzeitung zum Spiel zwischen Chelsea und Dynamo Moskau am 13. November 1945. Die 85.000 Fans an der Stamford Bridge erfuhren in dem Blättchen zudem Wissenswertes über den sowjetischen Fußball und die Dynamo-Spieler, nicht jedoch, dass sie mit ihren Stars um Torhüter Alexei „Tiger“ Khomich und Mittelstürmer Konstantin „Bomber“ Beksov zunächst in einer modrigen Kaserne wohnen mussten. Die freundliche Geste der Dynamo-Elf, die ihren Gegnern vor dem Anpfiff Blumen überreichte, wurde von den Londonern nicht erwidert – alles andere als die feine englische Art.
Die Sowjets witterten eine Verschwörung, weil Chelsea kurz vor dem Spiel Superstar Tommy Lawton für 14.000 Pfund vom FC Everton geholt und der FC Arsenal sich zum Spiel gegen die Sowjets am 21. November 1945 mit keinem geringeren als Stanley Matthews verstärkt hatte. Sie revanchierten sich auf ihre Weise und brachten zum Spiel gegen die „Gunners“ ihren eigenen Schiedsrichter, Nicolaj Latyschew, mit. Dieser pfiff trotz dichtem Nebel an, ließ zwei Abseitstore gelten und störte sich auch nicht daran, dass Dynamo mehr als 20 Minuten mit 12 Spielern auf dem Platz war.
Es dauerte übrigens bis zum Sommer 2003, ehe wieder ein Russe beim FC Chelsea von sich reden machte, als Roman Abramowitsch den Klub für 210 Millionen Euro übernahm.
Der Text ist in RUND_#13_08_2006 erschienen.
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