OBDACHLOSEN-DM
Barsinghausen, Hannover, Melbourne
Bundestrainer Hollnagel sucht die Besten: Bei der Deutschen Meisterschaft der Obdachlosen spielen die Fußballer ohne festen Wohnsitz auch um die Teilnahme bei der WM, die im Dezember in Australien stattfindet. Von Roger Repplinger, Hannover.

Hans Dieter Hollnagel steht mit seinem kleinen Notizbuch hinter dem Tor. Ins Notizbuch schreibt er Namen und Positionen. So könnte das aussehen, oder vielleicht auch so. Aber so ist auch nicht schlecht.
Hollnagel trainiert die deutsche Nationalmannschaft der Obdachlosen, die beim „Homeless World-Cup“ vom 1. bis 7. Dezember in Melbourne (Australien) antritt. 56 Mannschaften kämpfen um den WM-Titel, einige Länder nehmen das sehr ernst und unterstützen ihre Mannschaften. Andere nicht. Deutschland gehört eher zu den anderen.
Die Zahl der teilnehmenden Länder steigt Jahr für Jahr, ebenso das Niveau. „Auch wir werden immer besser, aber weil sich die anderen auch steigern, ändert sich an unserer Platzierung, immer so um Platz 20 herum, nichts“, sagt Hollnagel.
Hollnagel und sein Notizbuch waren am vergangenen Wochenende in Hannover, am Steintor, mitten in der Stadt, weil dort die dritten Deutschen Meisterschaften der Obdachlosen im Straßenfußball stattfanden.
Für die Spieler ging es also nicht nur um die Meisterschaft, sondern auch darum, in das Notizbuch zu kommen. Denn eine Reise nach Australien hat schon was.
Bei der WM der Obdachlosen sind die Schotten Titelverteidiger, bei der deutschen Meisterschaft ist es die Jugendwerksiedlung Hannover (JWS), der damit auch die Ehre zuteil wurde, die Meisterschaft auszurichten. Vor zwei Jahren, bei der WM in Kapstadt, waren zwei Spieler aus Hannoveraner dabei, 2007 in Kopenhagen Einer. Das Endspiel verloren die Kicker der JWS Hannover gegen Kalandhof Celle mit 1:3. Hannibals Erben aus Kiel, auch einer der Mitfavoriten, wurden Dritter.
Die Zeiten, als nur aus Straßenzeitungs-Mannschaften gebildete Teams die Meisterschaften ausmachten, sind vorbei. In Hannover waren 20 Teams am Start: Wohnungslosenhilfen, Sucht- und Drogentherapie-Einrichtungen, wer etwas mit Obdachlosen zu tun hat, kann mitmachen. Aus Norddeutschland die JuHus Kickers und die Kunztkicker aus Hamburg, das Werkheim Hannover, Hannibals Erben und die Integrale Hempels aus Kiel, Kalandhof Celle, die Dirty Devils aus Gifhorn. Das fußballverrückte Ruhrgebiet war unterrepräsentiert und Berlin nicht da. Die hatten zeitgleich ein eigenes Turnier.
Teilnehmer und Betreuer der DM in Hannover, insgesamt 200 Personen, schliefen im Zeltdorf am Stephansstift. DM-Veranstalter war „Anstoß“, ein vom Bundesverband der Straßenzeitungen zu diesem Zweck gegründeter Verein. Die Veranstaltung kostete 60.000 Euro, für die Sponsoren zu finden kein leichtes Unterfangen war. Falls ein Defizit bleibt, muss „Anstoß“ einspringen. Die Stadt Hannover hat kein Geld, aber immerhin den Platz am Steintor zur Verfügung gestellt. Die Bande kam vom niedersächsischen Fußballverband.
„Man weiß nie, welche Spieler antreten, weil es sein kann, dass die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl vollstreckt“, erklärt Sozialarbeiter Klaus Steffens, 40 Jahre alt, der bei der JWS für Sport zuständig ist. Steffens ist im Herzen immer linker Verteidiger seines Heimatclubs SG Thönse-Wettmar geblieben und möchte gerne einen Trainerschein machen.
So ein Haftbefehl kann vollstreckt werden, weil schon Schwarzfahren ausreicht, um eine Bewährung zu widerrufen. Steffens, der seine Spieler zwei Mal pro Woche zum Fußball-Training bittet, und ein Mal mit ihnen laufen geht, war im Trainingslager in Barsinghausen, der niedersächsischen Sportschule, die auch schon von der Deutschen Fußball-Nationalelf mit Besuchen beehrt wurde.
Steffens (Klaus) erweist sich als Fan von Stevens (Hub): „Die Null muss stehen“, fordert er. Gelang bei den ersten DM-Spielen prima: 4:0 gegen Streetwork Karlsruhe und 10:0 gegen JuHu Hamburg. Nur im Finale nicht.
Zwei Mal sieben Minuten, das Spielfeld ist 18 Meter lang, zwölf Meter breit, drei Feldspieler, ein Torwart, vier Einwechselspieler. Silvio, 31 Jahre alt, steht im JWS-Tor. Seit einer Woche ist er mit Katrin verheiratet, die er in der Einrichtung kennen gelernt hat. Nach einem Jahr auf der Straße und einigen Monaten in der Wohngruppe der JWS, hat er nun eine eigene Wohnung und arbeitet seit eineinhalb Jahren als Packer. „Ist nur ein 400-Euro-Job aber besser als nüscht“, sagt er.
Silvio hat als Kind und Jugendlicher Handball gespielt. Im Tor. Und als er von Steffens gefragt wurde, ob er nicht Lust hat, ein bisschen zu kicken, nickte er. Er kommt aus Neustrelitz und gesteht: „Mein Herz schlägt für Werder Bremen.“
Seit er wieder Sport treibt, fühlt er sich besser. „Die ersten Trainingseinheiten waren katastrophal, dann wurde die Kondition besser. Gutes Gefühl“, erzählt Silvio, „wichtig ist, dass wir alle wunderbar zusammen halten und jeder für den anderen einsteht.“
Der Fußball, das ist Steffens feste Überzeugung, die er auch „empirisch begründen könnte“, hilft in Bezug auf Selbstbewusstsein, die Planung des Tagesablaufs, die Planung einer Woche, die sozialen Kontakte. „Wer Fußball spielt, traut sich eher in eine eigene Wohnung, weil er seine Kontakte zu uns, zu den Kumpels, nicht verliert, auch wenn er die soziale Einrichtung verlässt“, erklärt Steffens, „wir trainieren ja weiter zusammen.“
Beim Fußball werden „Toleranz und Teamfähigkeit gelernt, Frustrationstoleranz, die Spieler lernen mit Siegen und Niederlagen umzugehen“. Was ist denn schwieriger: verlieren oder gewinnen? Steffens: „Wenn ich im Leben immer ein Verlierer war, dann ist Siegen schwieriger – das Verlieren kennen die Jungs.“ Da kommt es leicht zu Übermut, das wird der Triumph extrem nach außen getragen und der Absturz ist dann umso tiefer.
Für Steffens ist der Fußball ein „Mittel der sozialpädagogischen Arbeit. Eine extrem plastische Möglichkeit, bestimmte Dinge zu vermitteln“. Fehler wirken sich sofort aus, wer etwas richtig macht, wird nicht immer sofort belohnt, aber irgendwann doch. Manche Gespräche erübrigen sich, wenn es um den Fußball geht. Gespräche über Drogen zum Beispiel. Dass Drogen und Fußball nicht zusammen passen, kapiert jeder.
Da gab es einen Spieler im Training, der am Ende des Trainings einen Krampf hatte. „Scheiß Alkohol“, sagte Steffens zu ihm. „Nene“, meinte der Spieler, „das hat nix mit dem Alkohol zu tun. Ich bin nur kaputt.“ Beim nächsten Training, und zwar schon in der Mitte, hatte eben dieser Spieler Krämpfe in beiden Waden. „Scheiß Alkohol“, sagte Steffens zu ihm. Der Spieler schüttelte den Kopf. Beim nächsten Training lag der Spieler mit Krämpfen in Oberschenkeln und Waden am Boden und verzog das Gesicht vor Schmerzen. „Scheiß Alkohol“, wiederholte sich Steffens. Die Antwort lautete nun: „Lass uns reden.“
Am Ende des Turniers, als Kalandhof Celle der Sieger-Pokal überreicht wurde, da war auch Hollnagel zufrieden. Er hatte sein Notizbuch voll geschrieben und eine Idee, wie er seine Jungs in Melbourne ins Spiel schicken kann.
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