RANGNICKS RÜCKTRITT
Keine  Tabus
Erschöpfungssyndrom bei Trainer Ralf Rangnick. Schwule Profis. Im Umgang mit den sogenannten Tabuthemen zeigt sich: Die Fankurven sind weiter als wir Medienheinis. Von Christoph Ruf.

 

Ralf RangnickSpaziergänger in Backnang: Ralf Rangnick braucht eine Pause vom Trainerberug.
Foto Gianni Occhipinti

 

„Ralf, komm gesund zurück.“ Diese und ähnliche Wünsche standen am Samstag auf Transparenten und Zetteln, die viele hundert Fans in der Schalker Nordkurve gehisst haben. Sie haben damit Ralf Rangnick die besten Wünsche übermittelt. Rangnick, der am Donnerstag sein Amt als Schalke-Coach wegen eines Erschöpfungssyndroms niedergelegt hatte. Und der dafür verdächtig viel Lob von all denen geerntet hat, die noch jeden Stollen-Wechsel und jeden Querpass in der 78. Minute zur Schicksalstat verklärten. Rangnick, heißt es unisono, habe mit seinem Schritt enormen Mut bewiesen. Und das stimmt ja auch, wenn man sich anschaut, welches Medienecho er damit hervorgerufen hat. Und es auf den ersten Blick ja tatsächlich auch mutig, eine Schwäche in einem Land publik zu machen, das allabendlich den Superstar oder das Topmodel sucht. Nur, dass die Menschen in der Fankurve im Gegensatz zu manchem Medienheini noch wissen, dass das eine die allabendliche Fiktion und das andere die Realität ist.

Wenn ein Spieler, Trainer oder Funktionär von der unter Volldampf stehenden Maschine Bundesliga herabspringt und wenig später Worte wie „Vegetatives Erschöpfungssyndrom“, „Depression“ oder „Homosexualität“ herumwabern, dauert es nicht lange, bis die Interpretationsschablone frei Haus geliefert wird: Dem Ausgebrannten, dem Niedergeschlagenen oder dem Schwulen gebührt höchster Respekt, weil er damit an ein „Tabuthema“ gerührt habe. Was ein Tabu ist, bestimmen aber wir Journalisten. Über das, was angeblich taubuisiert ist, plaudern wir jeden Tag ein paar Stunden. Und das Meiste, was wir zum Kult erklären, finden wir selbst todlangweilig. Man muss diese Etiketten also nicht besonders erst nehmen. Zumal die Deutungshoheit oft bei Menschen zu liegen scheint, die sich selbst für ungeheuer aufgeklärt halten (und dann doch über das „Weichei“ lästern, das nicht jeden Tag den Ellenbogen ausfährt), das Volk aber ... Nun ja, lassen wir das, die Branche kann vieles vertragen, nur nicht noch mehr Abokündigungen. Doch es scheint, als sei die Gesellschaft längst weiter als ihre Interpreten.

Es mag in den Ligen eins bis drei Vereine geben, deren Einzugsgebiet so ländlich geprägt ist, dass sich Schwule im Büro nach wie vor nicht zu erkennen geben und psychisch Kranke sich lieber in der nächstgelegenen größeren Stadt behandeln lassen. Benedikt, formerly known as Ratzinger stammt aus einer solchen und hätte noch heute nichts dagegen, wenn München, Magdeburg und Mönchengladbach so funktionieren würden wie Marktl am Inn zu Zeiten seiner Adoleszenz. Doch selbst Marktl am Inn funktioniert nicht mehr so wie damals 1943. So gut wie jede Lehrerin, jeder Altenpfleger und jeder Automechaniker, der auch nur auf ein paar Jahre Berufserfahrung zurückblickt, hat 2011 bereits mit homosexuellen Kollegen zusammengearbeitet. Und er/sie hat mitbekommen, dass viele Krankmeldungen nicht aufgrund von Beinbrüchen oder Fieberschüben ausgestellt werden. Uli Hoeneß hat also vollkommen Recht, wenn er auf einer Podiumsdiskussion sagt, was passieren würde, wenn sich der erste homosexuelle Profi outet: Nichts. „Das ist überhaupt kein Tabuthema“, sagt Hoeneß, „soll doch jeder machen, was er will.“ Recht hat er. Doch im Gegensatz zu manchem Wissenschaftler oder Publizisten, der sich zum Thema auslässt, war Uli Hoeneß eben auch schon mal in einem real existierenden Fußballstadion.

In den Fankurven stehen keine Aliens, keine Zombies, die am Samstag aus ihren Gräbern kriechen, um sich nach dem Spieltag wieder im Moder zu verbuddeln. In den Fankurven stehen genau diese Altenpfleger, Lehrer und Automechaniker. Leute, die schon mal „Arschloch, Wichser, Hurensohn“ bei Abschlag des gegnerischen Torwarts brüllen. Aber auch Leute die ein feines Gespür dafür haben, wann es ernst wird.

Sebastian Deisler, der Depressive, hat aus vielerlei Gründen gemerkt, dass er in der Bundesliga fehl am Platze ist – die Fans waren dabei kein Grund. Sie haben ihn ermuntert weiterzumachen. Der homosexuelle  Rugbyspieler Thomas Gareth schob sein Outing jahrelang vor sich her. Nun ist er erleichtert: Weder Fans noch Mitspieler haben so reagiert, wie er das befürchtet hatte. Genauso wenig würde ein schwuler Profi in der Bundesliga angefeindet. Nur dass der entsprechende Spieler nicht mehr spielen würde, weil er pro Tag 48 Exklusivinterview-Anfragen erfüllen müsste.

 

Ralf RangnickVor dem Backnanger Rathaus: Ralf Rangnick Foto Gianni Occhipinti

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