Taktik Nationalelf

Mit dieser Spielidee bringt Nagelsmann die Nationalelf zurück in die Weltspitze 

Mit aggressivem Pressing, einer guten Restverteidigung und mehr Ballkontrolle hat Julian Nagelsmann die Nationalmannschaft stabilisiert. Was der Bundestrainer dabei besser machte als sein Vorgänger Hansi Flick. Von Marius Thomas

 

Julian NagelsmannJulian Nagelsmann bei der TSG Hoffenheim. Foto: Pixathlon

 

Die Spielidee von Julian Nagelsmann in der deutschen Nationalmannschaft
Die Ausgangslage war schwierig. Nach dem enttäuschenden Vorrunden-Aus sowohl bei der Weltmeisterschaft in Katar 2022 als auch bei der Weltmeisterschaft in Russland 2018 und einer Phase sportlicher Orientierungslosigkeit unter Hansi Flick stand die Nationalelf vor einem Umbruch. Das Bild der Nationalmannschaft wurde von defensiven Unsicherheiten, fehlender Balance zwischen Offensive und Defensive sowie einer unklaren Spielidee geprägt. Die einstige Turniermannschaft schien ihre Zielstrebigkeit verloren zu haben.

Durch die Verpflichtung von Julian Nagelsmann als Bundestrainer im Herbst 2023 wurde die Hoffnung auf einen Neuanfang groß. Mit ihm sollte die Elf fußballerisch stabiler werden und zu einer neuen Identität finden. Die Veränderungen zeigten sich bald:  Schon im Vorfeld der Heim-Europameisterschaft 2024 agierte die Mannschaft kompakter und strukturierter. Beim Turnier sahen die Fans eine deutsche Mannschaft, die taktisch gefestigt war, defensiv seltener vor Probleme gestellt wurde und in entscheidenden Momenten die nötige Kontrolle über das Spiel behielt.  Was das mit der Spielidee von Julian Nagelsmann zu tun hat, darum geht es in diesem Text.

Ausgangslage: Die DFB-Elf unter Hansi-Flick – Offensivdrang ohne Absicherung
Als Hansi Flick im Sommer 2021 Bundestrainer wurde, waren die Erwartungen groß. Nach dem durchwachsenden Ende der Ära Löw sollte Flick mit seiner offensiv ausgerichteten Spielidee neuen Schwung in die deutsche Nationalmannschaft bringen. Zunächst schien dieser Plan auch aufzugehen. Die Mannschaft spielte in den ersten Spielen unter Flick dominant, mutig und offensiv. Dabei wurde der Ballbesitz forciert, die Anzahl der Torchancen war dadurch hoch und man sah eine Mannschaft, die vor allem nach vorne dachte. Je länger jedoch die Amtszeit von Flick andauerte, desto deutlicher traten strukturelle Schwächen auf. Zwar setzte er auf hohes Pressing und frühes Anlaufen des Gegners, doch dabei fehlte die Abstimmung zwischen Offensive und Defensive. Zu oft ließ die Mannschaft große Räume im Mittelfeld und in der Restverteidigung zu, was die Gegner in Form von schnellen Gegenstößen ausnutzen konnten. Diese Konteranfälligkeit wurde zum Sinnbild in dieser Phase für die deutsche Nationalmannschaft.

Auch beim Ausscheiden bei der WM in Katar waren es genau diese Schwächen, die im Turnierverlauf unübersehbar wurde. Ein Beispiel hierfür ist das 1:2 gegen Japan: Das Team wurde trotz Führung und spielerischer Dominanz nachlässig und gab folglich das Spiel noch aus der Hand. Flicks Spielweise verlangte von den Spielern viel Laufarbeit und ein hohes Maß an Abstimmung innerhalb der Mannschaft. Im Vereinsfußball mit täglichem Training ist dies leichter umzusetzen als im Rhythmus einer Nationalmannschaft. Oft wirkte die Mannschaft überambitioniert, versuchte dabei Spiele mit der berühmten Brechstange zu gewinnen und verlor dabei die nötige Balance. In der Defensive ließ Flick die Mannschaft meistens in einer hoch stehenden Viererkette agieren, ohne dabei vom Mittelfeld ausreichend gesichert zu werden. Dadurch wirkte der Defensivverbund oft instabil und es gab keine klare Ordnung. Ein weiterer Punkt ist die Entscheidungsfindung im Spiel, die häufig zu ungeduldig war. Anstatt variabel im Tempo zu agieren und auch mal Ruhephasen einzubauen, spielte die Mannschaft mit einer Geschwindigkeit, die oft ein hohes Risiko mit sich brachte. Fehler, die im Spielaufbau vorkamen, wurden von Gegnern auf internationalem Top-Niveau gnadenlos bestraft. Nach der katastrophalen WM und weiteren enttäuschenden Auftritten in Freundschaftsspielen war es absehbar, dass es vor der Heim-Europameisterschaft einen neuen Ansatz benötigt. 

Julian Nagelsmann: Trainerprofil und Philosophie
Julian Nagelsmann gilt als einer der modernsten Trainern seiner noch recht jungen Generation. Schon bei seinen Stationen in Hoffenheim, Leipzig und Bayern München überzeugte er durch taktische Flexibilität, ein tiefes Verständnis für Spielstrukturen und auch den Mut für neue Wege. In seinem Ansatz sieht er den Fußball als komplexes System, in dem jedes Detail von Bedeutung ist. Diese Komplexität geht von der Raumaufteilung über das Pressingverhalten bis hin zur Anpassung an den Gegner. Insgesamt steht Nagelsmann für eine variable Grundordnung. Er wechselt je nach Situation zwischen einer Dreier- und Viererkette. Dies war zu sehen bei den Nations League Spielen gegen Italien. Im Hinspiel agierte er mit einer klaren Viererkette, Im Rückspiel hingegen wurde aus der Vierer- eine Dreierkette. Großen Wert legt er vor allem auf Kompaktheit und eine klare Staffelung, die zur Absicherung dient. Gleichzeitig fordert er von seinen Teams ein hohes Maß an taktischer Disziplin und Spielintelligenz. Entscheidende Prinzipien in seiner Spielphilosophie sind Ballkontrolle, gezieltes aggressives Pressing und einer gute Restverteidigung mit Absicherung bei Ballverlusten. Bei der Nationalmannschaft setzte Nagelsmann von Beginn an auf defensive Stabilität, Flexibilität im Spielaufbau und schnelles, zielstrebiges Umschalten als bewährte Elemente seiner Spielidee. Das Wichtigste dabei ist immer das Ziel, Kontrolle über das Spiel zu haben, sowohl im eigenen als auch im gegnerischen Ballbesitz.

Nagelsmanns Spielidee bei der Nationalmannschaft

1.  Defensive Stabilität als Fundament
Nach einigen Jahren der defensiven Unsicherheit unter Flick und auch bei der WM 2018 in Russland war es Nagelsmanns erste Aufgabe, die Mannschaft in der Defensive wieder zu stabilisieren. Dabei setzte er auf eine enge Kompaktheit zwischen den Mannschaftsteilen, wodurch die Abstände zwischen den Reihen verkürzt und Räume für den Gegner minimiert wurden. Besonders auffällig war dabei, dass die deutsche Nationalmannschaft nun kontrollierter im Anlaufen agierte, ohne sich quasi kopflos in Pressingsituationen zu stürzen. Das Ergebnis war in Form einer besseres Restverteidigung sichtbar, die Konterchancen des Gegners konsequent unterbunden hat.

2. Flexible Grundordnung
Nagelsmanns Teams haben sich schon immer durch eine taktische Variabilität ausgezeichnet. Das konnte er auch erfolgreich auf die Nationalmannschaft übertragen. Je nach Gegner oder Spielphase zwischen einer Dreier- und einer Viererkette. Dabei ließen sich dann bei der Heim-EM oft Kroos oder Andrich neben bzw. zwischen die Innenverteidiger fallen, um das eigene Spiel mitgestalten zu können. Die Grundausrichtung dabei blieb klar: Das Wichtigste im Spiel bleibt die defensive Stabilität. Danach wurde erst das Spiel nach vorne entwickelt. Durch diese Flexibilität kann das Team schnell auf unterschiedliche Spielsituationen reagieren, ohne dabei die defensive Ordnung zu verlieren.

3. Offensiv klar strukturiert und zielgerichtet
Der Fokus im Offensivspiel liegt auf zielstrebigen Angriffen und einer klaren Raumaufteilung. Nagelsmann bevorzugt es, Angriffe sauber aufzubauen und vorzubereiten. Dabei sollen Überladungen eines Spielraums gezielt eingesetzt werden, anstatt ohne wirklichen Plan nach vorne zu spielen. Kreative Impulse im letzten Drittel kommen dabei oft von Spielern wie Florian Wirtz oder Jamal Musiala. Das Mittelfeld, oft besetzt von Spielern wie Toni Kroos und Ilkay Gündogan und jetzt auch wieder Leon Goretzka, ist vor allem für die Stabilität und das Übergangsspiel und die Balance verantwortlich.

4. Umschaltspiel und Konterabsicherung
Eine weitere zentrale Veränderung unter Julian Nagelsmann ist die verbesserte Restverteidigung. Bei Ballverlusten ist die Mannschaft jetzt deutlich besser abgesichert. Die Konterabsicherung hat hohe Priorität, weshalb meist zwei Spieler als Ankerspieler und Restverteidigung hinter dem Ball bleiben. Gleichzeitig wird nach Ballgewinn schnell umgeschaltet. Das erfolgt jedoch nach klaren Abläufen und Passoptionen und nicht überhastet ohne wirklichen Plan.

Unterschiede zu Hansi Flick
Der Übergang von Hansi Flick zu Julian Nagelsmann brachte einen spürbaren Wandel in der deutschen Nationalmannschaft. Während Flick vor allem auf offensive Durchschlagskraft und aggressives Pressing setzte, verfolgte Nagelsmann einen strukturierteren und balancierteren Ansatz.
 
1. Von Offensivdrang zu Balance
Unter Flick lag der Fokus der Mannschaft klar auf dem Angriffsspiel. Dabei wollte die deutsche Nationalmannschaft früh pressen, hoch verteidigen und schnell nach vorne spielen. Mit dieser Spielweise ging oft die defensive Absicherung verloren. Daran setzte Nagelsmann an. Da er das offensive Risiko reduzierte und die Kompaktheit wieder in den Vordergrund stellte, brachte er wieder mehr Balance in das deutsche Spiel. Das Team agiert nun kontrollierter und mit klarem Fokus auf Stabilität.

2. Defensive Ordnung anstatt wildes Spiel
Oft war das Spiel unter Flick von einem „Alles-oder-nichts“-Gedanken geprägt. Die hohe Abwehrlinie und das intensive Pressing sorgten für Lücken, die die Gegner ausnutzen konnten. Durch Nagelsmann wurde in der Abwehr deutlich mehr Struktur eingearbeitet. Zwar geht die Mannschaft weiterhin vorne drauf, agiert dabei aber zielgerichtet und untereinander abgestimmt. Wenn es notwendig ist, steht die Abwehr tiefer und das Risiko wird dabei besser abgewogen.

3. Flexibilität vs. Starre Systeme
Einer der großen Unterschiede liegt in der taktischen Flexibilität. Flick hielt unabhängig vom Gegner und Spielverlauf zumeist an einem 4-2-3-1 System fest. Um auf neue Situationen zu reagieren, passt Nagelsmann die Formation auch während des Spiels flexibel an und wechselt zwischen Dreier- und Viererkette.

4. Führungsstil und Kommunikation
Während Flick oft auf seine bewährten Führungsspieler setzte und eine eher klassische Rollenverteilung pflegte, bezieht Nagelsmann die Spieler stärker in taktische Entscheidungen mit ein. Er fördert das Verständnis für seine Spielidee durch offene Kommunikation und detaillierte Erklärung seiner gewollten Abläufe. Dadurch wird das Vertrauen der Spieler in die Spielidee gestärkt und die Disziplin auf dem Platz erhöht.

Erste Ergebnisse und Entwicklungen nach der Heim-EM 2024
Bei der Heim Europameisterschaft 2024 zeigte Julian Nagelsmanns Ansatz bereits Wirkung. Auch wenn das ganz große Ziel, der Titelgewinn, ausblieb, war eine deutliche Entwicklung erkennbar. Die deutsche Mannschaft trat über weite Strecken des Turniers stabil, geschlossen und taktisch diszipliniert auf.

1.  Defensiv stabil, weniger anfällig
Eines der auffälligsten Merkmale war, dass die Defensive dem Druck standhielt. Im Vergleich zu den letzten Turnieren kassierte Deutschland deutlich weniger Gegentore im Turnierverlauf. Besonders in den KO-Spielen blieb die Mannschaft kompakt, verteidigte im Verbund und ließ wenige klare Chancen des Gegners zu. Die vorher gravierende Konteranfälligkeit wurde sichtbar im Vergleich zu Flicks Spielsystem reduziert.

2.  Kontrolle statt Hektik
Auch im eigenen Ballbesitz agierte die Mannschaft kontrollierter. Anstelle von überhasteten Angriffen und überdrehten Pressingsituationen dominierte Deutschland viele Spiele durch große Ballkontrolle und ruhigen Spielaufbau. Unter Nagelsmann wurde es geschafft, das Tempo zu dosieren und die Phasen im Spiel gezielt zu steuern. Im Vergleich zu seinem Vorgänger und den oft wilden und unstrukturierten Auftritten ist das ein großer Unterschied.

3.  Schlüsselspieler in neuen Rollen
Für seine Führungsspieler definierte Nagelsmann klare Rollen. Joshua Kimmich fand auf der Rechtsverteidigerposition als Hybrid zwischen Außenverteidiger und Sechser eine neue alte Rolle, die insgesamt defensive Stabilität brachte und gleichzeitig den Spielaufbau kreativer machte und verbesserte. Florian Wirtz und Jamal Musiala bekamen Freiheiten im letzten Drittel, arbeiteten aber diszipliniert und nach klaren Abläufen im Gegenpressing.

4. Neue Hierarchien und mannschaftliche Geschlossenheit
Die mannschaftliche Geschlossenheit war unter Nagelsmann ein weiterer Fortschritt. Ihm gelang es, klare Hierarchien zu etablieren, ohne den Teamgeist zu gefährden. Spieler wie Gündogan und Antonia Rüdiger übernahmen auf und neben dem Platz Verantwortung. Die Mannschaft trat als Einheit auf, was die Basis für nachhaltigen Erfolg in der Nationalmannschaft ist.

Fazit
Julian Nagelsmann hat es in kurzer Zeit geschafft, der deutschen Nationalmannschaft wieder ein stabiles Fundament zu geben. Nach Jahren voller Unruhe und taktischer Inkonsistenz hat die Mannschaft unter seiner Führung eine klare Struktur, defensive Stabilität und eine ausgewogene Balance zwischen Offensive und Defensive gefunden. Die Auftritte bei der Heim-EM 2024 haben gezeigt, dass Deutschland auf internationalem Topniveau wieder konkurrenzfähig ist und zur Weltspitze gehört. Doch wie nachhaltig ist diese Entwicklung? Die Europameisterschaft im eigenen Land war ein erster Schritt, doch auf dem Weg zum Titel bei der Weltmeisterschaft 2026 warten neue Herausforderungen. Das Weiterkommen in der Nations League in das Final-Four-Turnier ist ein weiteres Beispiel für die positive Entwicklung. Nagelsmann muss jetzt die nächsten Monate nutzen, um die Automatismen in der Mannschaft weiter zu verfeinern, jüngere Spieler ins Team zu integrieren und die Flexibilität im Spiel weiter auszubauen. Die Balance zwischen taktischer Disziplin und individueller Kreativität wird dabei entscheidend sein. Nach der Heim-EM wird das Umfeld weniger Geduld zeigen und die Erwartungshaltung wird hoch bleiben. Konstanz in den Leistungen und das Festigen der neuen Spielidee werden Nagelsmanns zentrale Aufgaben in den kommenden Monaten sein. Gelingt es ihm, die Mannschaft weiterzuentwickeln und zu festigen, kann Deutschland bei den nächsten Turnieren wieder zum Kreis der Titelfavoriten gehören.

Zurück  |