Taktik

Vom Abräumer zur Schaltstelle

Kaum eine Position ist im modernen Fußball so wichtig wie die Holding Six. Wie prägen Sechser wie Joshua Kimmich oder N'Golo Kanté das Spiel ihrer Mannschaften? Eine Analyse von Marius Thomas

 

Philipp Lahm
Das machte Philipp Lahm großartig: Gegenpressing im defensiven Mittelfeld der Nationalelf und des FC Bayern. Foto Pixathlon

 

Im modernen Fußball ist die Position der „Holding Six“ – also der zentrale defensive Mittelfeldspieler – zu einer der wichtigsten Schaltstellen auf dem Spielfeld geworden. Während sie früher in erster Linie als Abräumer vor der Abwehrlinie fungierte, hat sich ihre Bedeutung über die Jahre hinweg erheblich verändert. Die Aufgaben sind komplexer, die Anforderungen an Spielintelligenz, Technik und taktisches Verständnis deutlich gestiegen. Heute geht es nicht mehr nur darum, gegnerische Angriffe zu unterbinden, sondern auch darum, das Spiel zu strukturieren, das Tempo zu bestimmen und den Übergang zwischen Defensive und Offensive intelligent zu gestalten.

Wie hat sich die Rolle der Holding Six im Laufe der Zeit verändert? Welche unterschiedlichen Anforderungen werden heute an Spieler auf dieser Position gestellt? Und wie sehr beeinflusst die Wahl des Spielertyps – etwa ein robuster Zweikämpfer versus ein spielmachender Stratege – die Statik und Dynamik des gesamten Teams? 

Historischer Überblick 
Die Position der Holding Six – im deutschsprachigen Raum oft einfach als „Sechser“ bezeichnet – hat ihren Ursprung in klassischen Formationen wie dem 4-4-2 oder 4-3-3. In früheren Jahrzehnten war der Sechser in erster Linie als defensiver Zerstörer gedacht: ein Spieler, der vor der Abwehr absichert, Zweikämpfe gewinnt und den Ball möglichst schnell an kreativere Mitspieler weiterleitet. Spieler wie Claude Makélélé prägten diese Rolle in den frühen 2000er-Jahren. Mit der Weiterentwicklung des Fußballs hin zu mehr Ballbesitz, Pressing und taktischer Flexibilität begannen sich auch die Anforderungen an diese Rolle zu wandeln. Spätestens mit dem Aufstieg des Tiki-Taka-Stils unter Pep Guardiola rückten die spielerischen Fähigkeiten der Holding Six stärker in den Fokus. Xabi Alonso oder Sergio Busquets verkörperten eine neue Art von Sechser: weniger physisch-dominant, dafür mit überragendem Passspiel, Raumverständnis und taktischer Weitsicht. Diese Entwicklung setzte sich weiter fort – und heute gibt es kaum noch ein Top-Team, das nicht über eine klar definierte Holding Six verfügt, die das Spiel nicht nur defensiv stabilisiert, sondern es auch aus der Tiefe heraus prägt. Die Rolle ist nicht mehr statisch, sondern hochdynamisch und vielseitig interpretierbar – abhängig vom Trainer, vom Spielsystem und vor allem vom individuellen Profil des Spielers.

Die aktuellen Anforderungen an die Holding Six
Im modernen Fußball ist die Rolle der Holding Six weitaus vielschichtiger geworden. Ein reiner Abräumer ist heute nicht mehr ausreichend – die Anforderungen an einen Sechser sind komplex und verlangen ein breites Spektrum an Fähigkeiten. Während die defensive Stabilität nach wie vor ein zentraler Bestandteil der Aufgabe bleibt, spielen heute auch das Aufbauspiel, die Ballverlagerung und das Umschaltspiel eine wesentliche Rolle.

Defensive Aufgaben: Im defensiven Bereich ist der Sechser nach wie vor für die Absicherung der Abwehr zuständig. Er soll Angriffe des Gegners frühzeitig unterbinden, Räume verdichten und für Ordnung sorgen. Dabei wird erwartet, dass er nicht nur als klassischer „Zweikämpfer“ auftritt, sondern auch als Raumdeuter, der den richtigen Moment abwartet, um den Ball zu erobern. Eine hohe taktische Disziplin und die Fähigkeit, im richtigen Moment das Spiel zu lesen, sind hier unverzichtbar.

Offensive Anforderungen: In der Offensive ist der Holding Six heute mehr denn je gefordert, das Spiel von der Tiefe heraus zu gestalten. Durch präzise, weite Pässe kann er das Tempo des Spiels bestimmen und den Ball sicher in die Angriffszone bringen. Spieler wie Sergio Busquets oder Joshua Kimmich zeigen, wie wichtig es ist, als Sechser nicht nur defensiv stark zu sein, sondern auch im Aufbauspiel glänzen zu können. Der Sechser übernimmt somit eine Schlüsselrolle im Übergangsspiel zwischen Abwehr und Angriff und muss sowohl kreativ als auch passsicher sein.

Flexibilität und Vielseitigkeit: Moderne Sechser müssen zudem flexibel sein und sich an unterschiedliche Spielsysteme und -phasen anpassen können. Sie sind gefragt, das Team sowohl in einem Ballbesitzspiel zu organisieren als auch in einem defensiven Umschaltspiel schnell und effizient zu agieren. Diese Vielseitigkeit erfordert eine hohe Spielfähigkeit in verschiedenen Szenarien und die Fähigkeit, sowohl defensiv als auch offensiv Verantwortung zu übernehmen.

Physis und Beweglichkeit:  Abschließend kommt hinzu, dass der Sechser physisch und beweglich sein muss. Ein moderner Sechser wie Joshua Kimmich oder N'Golo Kanté zeigt, dass die Fähigkeit, sich schnell zu bewegen, sowohl defensiv als auch offensiv von zentraler Bedeutung ist. Ausdauer, Schnelligkeit und die Fähigkeit, sich schnell auf wechselnde Spielsituationen einzustellen, sind entscheidend, um in dieser Position erfolgreich zu sein.

Insgesamt verlangt die heutige Position des Sechsers eine perfekte Kombination aus defensiven Qualitäten, Spielintelligenz, Passgenauigkeit und Flexibilität – eine Herausforderung, der sich nur wenige Spieler in der Weltelite gewachsen sind.

Einfluss des Spielertyps auf die Statik des Spiels
Die Wahl des Spielertyps für die Position der Holding Six hat weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Spielstatik eines Teams. Der Spielertyp, der diese Rolle ausfüllt, bestimmt maßgeblich, wie das Team in verschiedenen Phasen des Spiels agiert und welche taktischen Schwerpunkte gesetzt werden. Ein robuster, zweikampfstarker Sechser wird das Spiel anders gestalten als ein kreativer, passgenauer Spieler auf dieser Position – und das hat direkten Einfluss auf das Teamgefüge und die Spielführung.

Der aggressive, defensiv orientierte Sechser: Ein Beispiel für einen solchen Spielertyp ist der brasilianische Sechser Casemiro. Er ist ein Spieler, dessen Hauptaufgabe es ist, Bälle zu erobern, Zweikämpfe zu gewinnen und das defensive Mittelfeld zu stabilisieren. Ein Sechser wie Casemiro bringt vor allem dann Vorteile, wenn das Team in einem aggressiven Pressingspiel agiert, bei dem das schnelle Gewinnen des Balles und der schnelle Umschaltmoment im Vordergrund stehen. Der Fokus auf Ballgewinne und das Verhindern von Gegentoren macht das Team defensiv stabil und organisiert, was vor allem gegen spielstarke Gegner von Vorteil ist. Die Statik des Spiels wird bei einem solchen Spielertypen eher defensiv orientiert bleiben. Der Sechser wird nicht unbedingt in den Aufbau eingegriffen, sondern fungiert primär als Sicherungsposten. Diese Art von Holding Six ist für Teams wichtig, die auf stabile Abwehrarbeit und schnelle Konter setzen. Sie sorgen für eine gute Balance zwischen Defensive und Offensivaktionen.

Der spielaufbauende, kreative Sechser: Ein anderer Spielertyp, der immer häufiger in der modernen Fußballwelt zu finden ist, ist der kreative, spielaufbauende Sechser. Spieler wie Xabi Alonso oder Frenkie de Jong sind hervorragende Beispiele für diesen Typus. Sie zeichnen sich durch ihre exzellente Ballbehandlung, visionäres Passspiel und ihre Fähigkeit aus, das Tempo des Spiels von der tiefen Mittelfeldposition zu steuern. Ein solcher Sechser agiert als Katalysator für das Angriffsspiel, indem er das Spiel über die Flügel oder in die Spitze beschleunigt. Der Einfluss eines kreativen Spielers auf die Statik des Spiels ist enorm: Ein passgenauer Sechser ermöglicht es dem Team, den Ballbesitz zu kontrollieren, das Spiel zu strukturieren und in einem geduldigen Aufbau immer wieder neue Lücken in der gegnerischen Abwehr zu finden. Dieser Spielertyp ermöglicht es, das Tempo zu variieren und das Spiel sowohl defensiv als auch offensiv in den eigenen Händen zu halten. Das Team wird insgesamt ballbesitzorientierter und stellt höhere Anforderungen an das Zusammenspiel.

Die Wechselwirkungen mit anderen Positionen: Die Wahl des Spielertyps für die Holding Six hat nicht nur Einfluss auf die eigene Position, sondern auch auf die Arbeit der anderen Mittelfeldspieler und der Abwehrreihe. Ein defensiverer Sechser sorgt oft dafür, dass die beiden zentralen Abwehrspieler entlastet werden und mehr Freiheiten im Aufbauspiel erhalten. Andererseits verlangt ein kreativer Sechser oft von den zentralen Mittelfeldspielern, mehr defensive Aufgaben zu übernehmen, um den Raum zu schließen, den der Sechser durch sein höheres Spielengagement hinterlässt. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Abstimmung mit den anderen Spielern auf dem Feld. Teams, die mit einer offensiv ausgerichteten Holding Six spielen, müssen sicherstellen, dass die anderen Spieler defensiv genügend Absicherung bieten. Ein Team mit einem defensiven Sechser muss hingegen oft mit einem flexiblen und kreativen Mittelfeld agieren, das in der Lage ist, den Ballbesitz nach vorne zu tragen und offensive Akzente zu setzen.
Anpassung der Statik je nach Spielertyp: Die Wahl des Sechsers verändert also nicht nur das direkte Spiel des Teams, sondern beeinflusst auch, wie das Team im Gesamtbild auftritt. Ein aggressiver Sechser setzt andere Prioritäten als ein kreativer Sechser, was sich in der gesamten Teamstatik niederschlägt. Ein aggressiver Sechser kann die Statik eines Teams stabilisieren, indem er ein starkes Fundament in der Defensive bietet, während ein kreativer Sechser das Spiel dynamischer und ballbesitzorientierter gestalten kann. Die Wahl des Spielertyps für diese zentrale Position ist damit ein entscheidender Faktor für die Ausrichtung des gesamten Teams – vom Pressing über den Ballbesitz bis hin zu der Art und Weise, wie Angriffe gestartet und Verteidigungen durchbrochen werden.

Fazit und Ausblick
Die Position der Holding Six hat sich im modernen Fußball zu einer der anspruchsvollsten Rollen auf dem Spielfeld entwickelt. Was früher hauptsächlich als defensiver Abwehrspieler vor der Abwehrreihe betrachtet wurde, ist heute ein vielschichtiger, taktisch wichtiger Baustein eines jeden erfolgreichen Teams. Die Anforderungen an einen Sechser sind heute umfassend: Er muss nicht nur defensiv stabilisieren und als Abräumer fungieren, sondern auch in der Lage sein, das Spiel zu gestalten und das Tempo zu bestimmen. Die Vielseitigkeit und Flexibilität dieser Rolle ist entscheidend, um im modernen Fußball erfolgreich zu sein. Die Wahl des Spielertyps hat direkten Einfluss auf die Statik des Spiels. Ein defensiv orientierter Sechser wie Casemiro oder João Palhinha sorgt für defensive Sicherheit und ermöglicht es den offensiven Spielern, ihre Kreativität voll auszuspielen. Gleichzeitig kann ein spielerisch orientierter Sechser wie Declan Rice das Team im Ballbesitzspiel stabilisieren und als Katalysator für offensive Aktionen dienen. Die unterschiedlichen Spielertypen beeinflussen nicht nur das individuelle Spiel, sondern auch die kollektive Ausrichtung des Teams, sei es in der Defensive, im Aufbauspiel oder im schnellen Umschalten. Die Entwicklung der Holding Six wird sich auch in Zukunft weiter verändern. Mit der fortschreitenden Professionalisierung und den zunehmenden taktischen Anforderungen im Fußball wird die Rolle noch variabler und facettenreicher. Trainer werden zunehmend darauf achten, wie gut ein Spieler in der Lage ist, zwischen verschiedenen Spielphasen zu wechseln und das Team sowohl in der Defensive als auch im Angriff zu unterstützen. Die Entscheidung, welcher Spielertyp auf dieser Schlüsselposition eingesetzt wird, wird weiterhin ein entscheidender Faktor für die Spielphilosophie eines Teams sein. Für die Spieler bedeutet dies, dass die Anforderungen an ihre Vielseitigkeit und ihre Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen des Spiels weiter steigen werden. Um auf höchstem Niveau zu bestehen, müssen Holding Six-Spieler nicht nur die klassischen defensiven Qualitäten mitbringen, sondern auch ihre technische und taktische Intelligenz unter Beweis stellen. Nur so können sie sicherstellen, dass sie eine zentrale Rolle im modernen Fußball einnehmen und ihre Teams zu Erfolg führen.

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