Taktikreport
Warum die Dreierkette langsam aus der Mode kommt
Fast unbemerkt ist die Viererkette wieder Stammformation vieler Topteams geworden. Nicht, weil sie nostalgisch verklärt wird, sondern weil sie in ihrer modernen Form viele taktische Probleme smarter löst als. Das hat viel mit der Hybridisierung des Spiels zu tun. Eine Analyse von Marius Thomas
Jürgen Klopp griff in seinen späten Jahren beim FC Liverpool wieder auf die Viererkette zurück. Aus Überzeugung. nicht aus Mangel an Alternativen Foto Pixathlon
"Warum spielt ihr nicht einfach Viererkette?" – eine Frage, die in jeder hitzigen Fußball-Debatte früher oder später auf den Tisch kommt. Egal ob in der Kreisliga-Kabine, am Sky-Experten-Tisch oder auf der Tribüne beim Bundesliga-Spiel – das Duell zwischen Viererkette und Dreier- bzw. Fünferkette ist so alt wie der moderne Fußball selbst. Oder zumindest fühlt es sich so an. Tatsächlich wurde dieser Systemkonflikt schon vor fast zwei Jahrzehnten ausführlich diskutiert. Damals stand die Formation sinnbildlich für die Modernisierung des Defensivspiels in Deutschland. Der Libero war tot, die Raumdeckung das neue Evangelium, und die Viererkette galt als Schlüssel zum internationalen Anschluss. Heute – 17 Jahre später – ist die Debatte komplexer geworden. Fußballtaktik hat sich weiterentwickelt, neue Systeme sind entstanden, alte wurden revitalisiert. Die Dreierkette (oder besser: die Fünferkette) hat in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt. Trainer wie Thomas Tuchel, Antonio Conte oder Julian Nagelsmann haben sie salonfähig gemacht. Doch inmitten all dieser taktischen Vielfalt fällt auf: Die Viererkette ist alles andere als obsolet. Im Gegenteil – viele Topteams vertrauen wieder verstärkt auf sie, oft in neuer, flexibler Form. Was also macht die Viererkette 2025 (wieder) so attraktiv? Wie hat sich ihr taktischer Wert im Vergleich zur vermeintlich moderneren Dreier- oder Fünferkette verändert? Und warum greifen gerade jetzt wieder viele Trainer zu einem System, das manche fast schon als "Basic" abtun? Zeit für eine Bestandsaufnahme – mit Blick zurück auf 2007, aber vor allem mit Blick nach vorn.
Historischer Rückblick – Wie sich die Viererkette etabliert hat
Wer sich an den Fußball der frühen 2000er erinnert, denkt vielleicht an schnörkellose Innenverteidiger, kantige Außen und ein neues Bewusstsein für Raum statt Mann. Die Viererkette, wie sie Ronald Reng 2007 in RUND beschrieben hat, war damals nicht einfach nur ein taktisches Modell – sie war ein Statement. Deutschland hatte sich vom Libero verabschiedet, und mit der Raumdeckung in der Viererkette hielt ein neues Denken Einzug, das von internationalen Vorbildern wie Arrigo Sacchi oder Arsène Wenger inspiriert war. Damals stand vor allem die Struktur im Verteidigen im Vordergrund. Die Viererkette galt als stabil, kompakt, gut verschiebbar – ein Bollwerk gegen Angriffe, das durch kollektives Verhalten und klare Abstände funktionierte. Der individuelle Ausputzer war passé, gefragt waren Kettenbewegung, Abseitsfalle und Absicherung durch Doppelsechs oder Außenverteidiger. Der Text von 2007 beschreibt diese Neuerung fast schon euphorisch: Die Viererkette war mehr als ein System – sie war ein Kulturwandel im deutschen Fußball. Und das zu Recht. Der Erfolg gab ihr recht: Ab der EM 2008 und vor allem bei der WM 2010 war sie das Fundament einer neuen Spielergeneration. Doch Fußball entwickelt sich weiter – und mit der Zeit kamen Zweifel. Die Räume zwischen den Linien wurden größer, Pressing-Formen komplexer, Spieler positionsflexibler. In dieser neuen Dynamik geriet die klassische Viererkette ins Wanken. Zu statisch? Zu linear? Zu leicht zu bespielen, wenn sie nicht perfekt abgestimmt war? Parallel dazu tauchte immer häufiger ein anderer Begriff auf: die Dreierkette – oder in Wirklichkeit meist eine Fünferkette, denn kaum ein Team verteidigt heute noch dauerhaft nur mit drei Mann hinten. Trainer begannen, mit der Breite im Spielaufbau zu experimentieren, suchten nach Lösungen gegen das hohe Pressing – und fanden sie oft in einer zusätzlichen Absicherung durch einen dritten Innenverteidiger oder einen zurückfallenden Sechser. Trotzdem: Auch wenn es zwischenzeitlich ruhig um sie wurde – die Viererkette verschwand nie wirklich. Sie blieb präsent, wurde modifiziert, neu gedacht – und feiert heute eine kleine Renaissance. Doch dazu später mehr.
Dreier-/Fünferkette: Flexibilität oder defensive Notlösung
Als die Dreierkette in den letzten Jahren vermehrt auf den Spielfeldern Europas auftauchte, war sie zunächst ein taktisches Ausweichmanöver. Ein Mittel gegen offensive Dominanz und intensives Pressing – aber nicht selten auch Ausdruck defensiver Vorsicht. Doch das Bild hat sich gewandelt. In der heutigen Analyse steht die Fünferkette längst nicht mehr nur für tiefes Verteidigen, sondern für strukturierte Flexibilität im Aufbau und in der Absicherung. Wichtig: Wenn im modernen Sprachgebrauch von Dreierkette die Rede ist, meinen viele eigentlich eine Fünferkette im Defensivverhalten. Drei Innenverteidiger werden durch zwei Flügelspieler ergänzt, die je nach Situation weit aufrücken oder tief fallen. Diese Hybridrolle der Außenbahnspieler – oft als Wingbacks bezeichnet – ist eines der taktischen Herzstücke dieses Systems.
Was spricht für die Fünferkette?
Ein zentrales Argument ist die numerische Absicherung im Spielaufbau. Gegen Formationen wie das 4-4-2 oder 4-2-3-1 bietet die Dreierreihe hinten eine zusätzliche Anspielstation, reduziert das Risiko von Ballverlusten und erleichtert die Zirkulation. Besonders wenn ein Sechser oder Keeper aktiv eingebunden wird, entsteht oft eine dominante Aufbaustruktur mit 3+1 oder 3+2 Absicherung. Gleichzeitig erlaubt das System eine hohe Breite, ohne defensiv instabil zu werden. Die Wingbacks können offensiv agieren, weil hinter ihnen immer noch drei zentrale Verteidiger absichern – ein Vorteil, der in Umschaltmomenten Gold wert ist. Kein Wunder, dass Trainer wie Antonio Conte das System fast zur Marke gemacht haben. Seine Chelsea-Meistermannschaft 2016/17 dominierte in einem 3-4-3 mit perfekt abgestimmten Flügelrollen. Auch Thomas Tuchel nutzte die Fünferkette auf höchstem Niveau – bei PSG, beim FC Chelsea (Champions-League-Sieger 2021) und auch beim FC Bayern, wo er sie situativ einsetzte. Für Tuchel war die Formation nie dogmatisch, sondern ein Werkzeug – etwa, um einen tiefen Block zu stabilisieren oder ein Übergewicht auf dem Flügel zu erzeugen.
Doch ist sie wirklich die bessere Option?
So variabel die Fünferkette sein kann – sie hat auch ihre Tücken. Besonders im Zentrum kann es bei schlechtem Nachschieben schnell zu Unterzahlsituationen kommen. Drei zentrale Innenverteidiger bedeuten eben auch: ein Spieler weniger im Mittelfeld. Das kann gegen pressingstarke oder ballbesitzorientierte Teams zum Problem werden. Oft muss ein Wingback oder Achter einrücken – was wiederum zu Raumverlust auf außen führt. Außerdem stellt die Fünferkette hohe Anforderungen an die individuelle Qualität der Wingbacks: Sie müssen sprintstark, technisch sauber und taktisch diszipliniert sein – sonst kippt die gesamte Formation. In der Bundesliga ist das ein häufiger Schwachpunkt bei Teams, die auf dem Papier eine Dreier-/Fünferkette stellen, in der Praxis aber kaum offensive Durchschlagskraft über außen entwickeln. Taktisch bietet die Fünferkette also viele Vorteile – aber sie ist keine Wunderwaffe. Ihre Wirksamkeit hängt stark von der Ausführung und den Spielertypen ab. Genau hier setzt die moderne Viererkette wieder an – mit einem deutlich anderen Fokus.
Warum die Viererkette ein Revival erlebt – und nie ganz weg war
Die Dreier- bzw. Fünferkette hat in den letzten Jahren zweifellos an Popularität gewonnen – doch während sich die taktische Debatte häufig um ihre Vorzüge drehte, schlich sich die Viererkette fast unbemerkt wieder in die Stammformationen vieler Topteams zurück. Nicht, weil sie nostalgisch verklärt wird, sondern weil sie in ihrer modernen Form viele taktische Probleme smarter löst als gedacht.
1. Stabilität ohne Überladung
Der größte Vorteil: Die Viererkette ermöglicht eine klarere Raumaufteilung und einfachere Rollenverteilung. Im Vergleich zur Fünferkette wird das Zentrum nicht geopfert – im Gegenteil: Mit zwei Sechsern oder einem Sechser und einem Achter davor lässt sich das Mittelfeld kompakt staffeln, was besonders gegen pressingintensive Gegner hilfreich ist. Ein zentrales Argument, das oft übersehen wird: Die Viererkette schafft Raum für Zusammenarbeit statt Überlagerung. Drei Innenverteidiger in der letzten Linie können sich bei Ballbesitz oft gegenseitig im Weg stehen, vor allem, wenn kein klarer Aufbauplan besteht. Zwei Innenverteidiger, flankiert von Außenverteidigern mit klarer Rollenverteilung, sorgen für klarere Passwege und eine definiertere Spielstruktur.
2. Pressingresistenz durch bessere Staffelung
Ein weiterer Grund für das Comeback der Viererkette ist ihre natürliche Kompaktheit gegen den Ball. Besonders in der Restverteidigung und im Gegenpressing wirkt sie oft griffiger – eben weil sie in ihrer Grundstruktur nicht auf Flügelunterstützung durch Wingbacks angewiesen ist, sondern situativ von den Außenverteidigern flankiert wird, die im Idealfall sowohl tiefe Räume absichern als auch ins Pressing nachrücken können. Jürgen Klopp, einst selbst ein Fan von asymmetrischen Ketten, setzte bei Liverpool wieder klarer auf Viererformationen – aus Überzeugung, nicht aus Mangel an Alternativen.
3. Modernisierte Außenverteidiger als Schlüssel
Ein Aspekt, den man in der Viererkette von 2025 nicht unterschätzen darf: die Entwicklung der Außenverteidiger-Rolle. Wo früher primär Tempo gefragt war, sind heute Kombinationsstärke, Positionsspiel und strategische Entscheidungen entscheidend. Spieler wie João Cancelo, Trent Alexander-Arnold oder Alejandro Grimaldo agieren längst nicht mehr wie klassische Außenläufer, sondern als hybride Zwischenraumspieler, oft im Halbraum oder gar im zentralen Mittelfeld auftauchend. Diese neue Dynamik sorgt dafür, dass die Viererkette heute viel flexibler ist als ihr Ruf. Sie ist kein starres 4-4-2-Fundament mehr, sondern oft nur das Grundgerüst für ein variables, dynamisches Spielsystem. Und genau darin liegt ihre Stärke: Sie vereint defensive Ordnung mit offensivem Spielwitz – wenn sie richtig interpretiert wird.
Paole Conte (hier mit Romele Lukaku bei bei Inter Mailand) griff auf die Dreierkette zurück Foto Pixathlon
Das moderne Hybridspiel: Kette ist nicht gleich Kette
Wer heute über Vierer- oder Dreierkette diskutiert, läuft schnell Gefahr, in einem taktischen Schwarz-Weiß-Denken stecken zu bleiben. Denn der Fußball des Jahres 2025 kennt längst keine festen Formationsgrenzen mehr – Ketten entstehen und verschwinden je nach Phase, Pressinghöhe und Ballbesitzsituation. Die klassische Unterscheidung zwischen Vierer- und Fünferkette wirkt da oft wie ein Relikt aus einer statischeren Zeit. Der Aufbau macht den Unterschied: Viele Teams beginnen nominell im 4-2-3-1 oder 4-3-3 – doch im Aufbau verschieben sich die Rollen radikal. Ein Außenverteidiger rückt ins Mittelfeld ein, ein Sechser lässt sich zwischen die Innenverteidiger fallen, der andere schiebt in die Halbräume – und plötzlich spielt das Team im 3-2-5 oder 2-3-5. Die Formation auf dem Papier sagt also immer weniger über die tatsächliche Struktur auf dem Platz aus. Manchester City unter Pep Guardiola war das Paradebeispiel: Nominell eine Viererkette, faktisch eine variierende Dreier- oder gar Zweierkette im Aufbau. Die Außenverteidiger – João Cancelo, später Kyle Walker oder Joško Gvardiol – agierten in unterschiedlichen Zonen, je nach Gegner und Phase. Guardiola spricht nicht mehr von Positionen, sondern von „Zonenbesetzung“. Diese Philosophie hat inzwischen weite Teile Europas erreicht. Auch Teams wie Brighton unter Roberto De Zerbi, Leverkusen mit Xabi Alonso oder Arsenal mit Mikel Arteta setzen auf Aufbaustrukturen, die auf dem Papier mit einer Viererkette starten, aber in der Praxis vollkommen anders aussehen. Das Spiel ist fließender geworden – Formationen sind heute vor allem narrative Vereinfachungen für Zuschauer und Medien. Flexibilität statt Dogma: Ein Grund für diese Hybridisierung ist die zunehmende Bedeutung des Positionsspiels und der Raumkontrolle. Es geht nicht mehr nur darum, "gut zu stehen", sondern darum, Zonen aktiv zu bespielen oder zu versperren – mal mit einem zusätzlichen Innenverteidiger, mal mit einem einrückenden Außen, mal mit einem herauskippenden Achter. Diese taktische Flexibilität setzt jedoch eine hohe Spielintelligenz voraus. Es reicht nicht mehr, einen Formationstyp zu beherrschen – Spieler müssen mehrere Rollen situativ verstehen und interpretieren können. Gerade deshalb ist der Fokus vieler Trainer auf Ausbildbarkeit, Passqualität und Entscheidungsfindung gestiegen. Die Rückkehr der Viererkette als Teil des Hybrids: Spannend ist, gerade weil das Spiel so fluide geworden ist, bekommt die Viererkette neuen Wert. Sie bietet eine solide, klare Grundordnung, die als Ausgangspunkt für diese Asymmetrien dient. Ihre „Einfachheit“ macht sie anpassungsfähig. Der Trainer kann darauf aufbauen, ohne das gesamte System umzustoßen. In gewisser Weise ist die Viererkette heute das, was der Libero einst war: eine taktische Plattform – aber eben für ein ganz anderes, komplexeres Spiel.
Fazit: Warum die Viererkette bleibt, was sie immer war – ein Fundament
Taktik ist im Fußball längst keine Frage mehr von starren Formationen oder klassischen Dogmen. Systeme werden angepasst, Rollen interpretiert, Strukturen verschoben – oft mehrfach innerhalb eines Spiels. Und doch: Die Viererkette hat überlebt – nicht, weil sie alt ist, sondern weil sie anpassbar geblieben ist. Der Blick zurück auf 2007 zeigt, wie weit der Weg war: von der Euphorie über die neue Raumdeckung, über das taktische Innovationsloch der frühen 2010er, bis hin zur Hybrid-Ära der letzten Jahre. Die Fünferkette hat viele Spiele geprägt, große Titel gewonnen und neue Perspektiven auf das Positionsspiel eröffnet. Doch sie ist kein Ersatz für die Viererkette – sondern eine Ergänzung. Was die Viererkette so besonders macht, ist ihre Balance aus Klarheit und Flexibilität. Sie bietet Struktur für defensive Stabilität, ist aber offen genug, um moderne Anforderungen – Aufbauvielfalt, asymmetrische Rollen, Pressingresistenz – aufzunehmen. Und sie passt sich an: durch invertierte Außen, tiefspielende Sechser, aufrückende Innenverteidiger. Kein starres System, sondern ein lebender Organismus. Dass viele Toptrainer – von Klopp über Alonso bis Arteta – wieder (oder immer noch) auf die Viererkette bauen, ist kein Zufall. Sie alle wissen: Man muss das Spiel verstehen, nicht die Formation befolgen. Und die Viererkette bietet den besten Ausgangspunkt, um dieses Verständnis auf dem Platz umzusetzen. Ob man nun Dreierkette, Fünferkette oder gar keine feste Kette spielt – eines ist klar: Die Viererkette bleibt. Nicht, weil sie das modernste System ist. Sondern weil sie das klügste Fundament für moderne Systeme ist.
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