TORJÄGER

„Ich habe die Kanone nie bekommen“

 Die Torjägerkanone wird seit 1966 fast jedes Jahr an den besten Torschützen der Bundesliga verliehen und ist das gusseiserne und martialische Symbol einer Sportart, in der aus allen Lagen geschossen wird. Nur einmal, 1971, ging Lothar Kobluhn für 36 Jahre leer aus. Die Geschichte der Kanone, die unterschiedlichste Behandlungsweisen erfuhr: gepflegt, verehrt, weggesperrt, misshandelt. Von Stefan Hossenfelder und Rainer Schäfer

 

Ihr Materialwert beträgt rund 340 Euro: Die Kanone wurde
bei einem fränkischen Jagdausrüster gefertigt, ihr Rohr ist sieben Zentimeter lang Foto Benne Ochs

 

Stürmerstar Miroslav Klose verletzt sich im Wohnzimmer beim Reinigen seiner Torjägerkanone. Schreckensmeldungen aus dem Fußball sind alltäglich geworden. Diese blieb uns bislang erspart. Nur seelische Schmerzen hat diese begehrte Kanone verursacht, aber davon wird später noch zu erzählen sein.
 
Der Bremer Torjäger Klose wurde zuletzt mit der Torjägerkanone ausgezeichnet, die 1966 zum ersten Mal verliehen wurde. An den Dortmunder Lothar Emmerich. Seitdem gehört sie zur Bundesliga wie die Tabelle und der Spielball.
 
Da steht er, der Traum aller Torschützen, Materialwert rund 340 Euro, für den Generationen von Stürmern alle ihre Tricks auspacken. Für das eiserne Regeln gebrochen werden und unsichere Kantonisten zu Elfmeterschützen befördert werden, nur um am letzten Spieltag doch noch die Trophäe in den Händen halten zu können. Wie 1989 als die Bayern-Profis Roland Wohlfarth mit vier Toren förmlich zur Kanone getragen haben.
 
„Ich wollte sie unbedingt einmal gewinnen“, erzählt Fritz Walter, einst schnauzbärtige Tormaschine des VfB Stuttgart. Sieben Zentimeter lang ist das gusseiserne Rohr, es ächzt leise, wenn man es nach unten drückt. Montiert ist es auf einen Holzuntersatz, links und rechts flankiert von zwei metallbeschlagenen Rädern. So wird die Torjägerkanone von einem fränkischen Jagdausrüster in den Olympia-Verlag geliefert, in dem das „Kicker Sportmagazin“ erscheint.
 
Jetzt geht der Hausschreiner ans Werk und fertigt eine Lafette aus leichtem Furnierholz in den Maßen 43 auf 22 Zentimeter an, auf der die Kanone und ein gegossenes Messingschild befestigt wird, mit dem eingravierten Namen des Rekordschützen. Fertig ist das Prachtstück, bestimmt vier Kilogramm schwer.
 
Fritz Walter hat es 1992 jubelnd in die Höhe gereckt. Die Verleihungszeremonie sorgte für bundesweite Erheiterung. „Wo isch mei Kanon?“, rief der freudig erregte und ungeduldige Walter in die Runde. Gar nicht wahr, sagt er heute: „Die Zuschauer haben gerufen: Wo isch die Kanon? Daraufhin habe ich gerufen: Joa, wo isch se denn?“ Diese Sternstunde des Fußballs muss wohl neu interpretiert werden.
 
„Ich habe die Auszeichnung 1965 erfunden“, erzählt Karl-Heinz Jens, 88, damals Redakteur beim „Sportmagazin“, das noch mit dem „Kicker“ konkurrierte. Aber musste es ausgerechnet eine Kanone sein? „So etwas gab es noch nicht, aber viele Pokale. Wir brauchten etwas, um auf uns aufmerksam zu machen.“ 1968 fusionierten die Konkurrenten zum „Kicker Sportmagazin“, das fortan die Trophäe verlieh.

Die Torjägerkanone ist eine Konstante in einer unruhigen Zeit. Aber einmal kam es doch zum Eklat: Lothar Kobluhn wartet seit 1971 auf seine Trophäe. Wie konnte das nur geschehen?
 
Der globalisierte Fußball soll schnelllebig und oberflächlich geworden sein, aber die Welt der besten deutschen Stürmer ist noch in Ordnung: Sie schießen Tore, die Torjägerkanone wird präpariert, „Kicker“-Chefredakteur Rainer Holzschuh geht auf Gratulationstour. Eine Konstante in einer unruhigen Zeit. Aber einmal in der Geschichte der Torjägerkanone kam es doch zum Eklat: Lothar Kobluhn, 1971 bester Schütze der Liga, wartet noch heute auf seine Gratifikation. Gekränkt erklärt er: „Ich habe die Kanone nie erhalten. Seitdem will ich mit dem ,Kicker‘ nichts mehr zu tun haben.“
 
Aber wie konnte ausgerechnet dem zuverlässigsten Sportmagazin der Welt eine solche Panne unterlaufen? Herausgeber Karl-Heinz Heimann erinnert sich genau: „Kobluhn haben wir stillschweigend übergangen, weil zwei Spieler von Oberhausen in den Bundesligaskandal verwickelt waren. In diesem Jahr haben wir gesagt: Das zählen wir einfach nicht.“ Für Kobluhn noch heute eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, für etwas büßen zu müssen, was er nicht verbrochen hat.
 
Noch einmal schwebten dunkle Wolken über der Torjägertrophäe: In den 80er Jahren stand sie wegen ihres kriegerischen Ausdrucks in der Kritik. Linke und pazifistische Kreise störten sich an der Verknüpfung von Fußball und martialischer Kampfrhetorik. Anfechtungen von „Sprachästheten“, so Karl-Heinz Heimann, die die Kanone aber nicht beschädigen konnten.
 
Neunmal musste sie zweifach verliehen wurden, demnach wurden seit 1966 insgesamt 51 Kanonen verteilt. Wo mögen die alle geblieben sein? „Die landen überall“, macht sich Wolfgang Stolpe, Berater der Werbeabteilung des Olympia-Verlags keine Illusionen, „auf dem Speicher, auf dem Trödelmarkt, auf dem Ehrenplatz.“
 
Gerd Müller, Rekordhalter mit sieben Auszeichnungen, bat irgendwann Karl-Heinz Jens darum, „wir sollen uns etwas anderes einfallen lassen. Er habe nicht genügend Platz für so viele Waffen“. Daraufhin wurden für Müller nur noch Miniaturen angefertigt. Dass sie unterschiedlich große Kanonen erhielten, wunderte übrigens auch Ulf Kirsten und die Mutter von Stefan Kuntz: „Sie fragte, ob ich weniger Tore geschossen habe, weil sie kleiner ausgefallen ist.“ Mitnichten. „Die Kanonengröße hat nichts mit der Anzahl der Tore zu tun. Sie wird vom Hersteller bestimmt“, so Stolpe.
 
Einerlei, wie groß sie ausgefallen sind, die meisten Torjägerpreise stehen in Vitrinen, wo sie in Ehren gehalten werden. Bei Roland Wohlfarth stehen die „Dinger“ im Büro, wo Frau Renate den „Schreibkram“ erledigt, „weil sie vom Holz her gut reinpassen“. Klaus Allofs hat seine beiden Kanonen in einer Kammer abgestellt, „schön eingepackt, diese Monster kann man nicht ins Wohnzimmer stellen. Sie sind kein wichtiger Bestandteil meines Lebens.“ Der immer noch stolze Fritz Walter geht „zweimal im Jahr mit dem Staublappen dran und mit etwas Creme, damit sie schön glänzt“. Soviel Pflege ist die Ausnahme: Fredi Bobic’ Trophäe ist „in keinem optimalen Zustand, die Schraube ist locker, da die Kinder zu oft damit gespielt haben“.
 
Aber der symbolische Wert der Kanone ist ohnehin ungleich höher anzusiedeln als der materielle, glaubt Mario Basler: „So eine Auszeichnung ist eine tolle Sache, da ist es wurscht ob die 100.000 Euro, 80.000 Euro oder 300 Euro wert ist.“
 
Ob die Trophäe allerdings den Meisterschützen Glück bringt, darüber herrscht keine Einigkeit. Bei Gerd Müller darf man daran zweifeln. Darüber reden will der oberste Kanonier der Nation nicht mehr. Ulf Kirsten hätte alle seine „Torjägerkanonen weggeworfen, nur um einmal Deutscher Meister zu werden“. Eines ist sicher: Die Auszeichnung berechtigt nicht automatisch zum Eintritt in die Nationalmannschaft. Martin Max brachte es auf sieben mickrige Minuten im Adler-Trikot. Fritz Walter blieb der Traum von der Nationalmannschaft unerfüllt, genau so wie für Lothar Kobluhn.
 
Kein Grund, an der Torjägerkanone zu zweifeln. „Wir haben immer mal wieder Überlegungen angestellt, etwas anderes zu machen“, sagt Karl-Heinz Heimann, „sind aber bei der Tradition geblieben.“ Eine Veränderung wird es trotzdem geben: Der fränkische Jagdausrüster hat die Kanonenproduktion eingestellt, zur kommenden Saison muss Ersatz gefunden werden.
 
Lothar Kobluhn ist es einerlei, wer die Trophäen schmiedet. Er pocht auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. „Ich möchte kein Geld, sondern nur das, was mir zusteht. Entweder entschuldigt man sich bei mir oder gibt mir nachträglich die Kanone.“ Das sollte doch zu leisten sein. Sonst vermitteln die Sportkameraden von RUND gerne zwischen den Parteien.
 
 Dieser Text ist in RUND #16_11_2006 erschienen.

Der Kicker hat Lothar Kobluhn die Torjägerkanone nach dem RUND-Interview schließlich im Jahr 2008 übergeben.
 
Torjägerkanonen in der Bundesliga:
 
1966 Lothar Emmerich, Borussia Dortmund, 31 Tore
 
1967 Lothar Emmerich, Borussia Dortmund, 28 Tore
            Gerd Müller, Bayern München, 28 Tore
 
1968 Hannes Löhr, 1. FC Köln, 27 Tore
 
1969 Gerd Müller, Bayern München, 30 Tore
 
1970 Gerd Müller, Bayern München, 38 Tore
 
1971 Lothar Kobluhn, Rot-Weiß Oberhausen, 24 Tore (nicht verliehen)
 
1972 Gerd Müller, Bayern München, 40 Tore
 
1973 Gerd Müller, Bayern München, 36 Tore
 
1974 Gerd Müller, Bayern München, 30 Tore
            Jupp Heynckes, Borussia Mönchengladbach, 30 Tore
 
1975 Jupp Heynckes, Borussia Mönchengladbach, 27 Tore
 
1976 Klaus Fischer, Schalke 04, 29 Tore
 
1977 Dieter Müller, 1. FC Köln, 34 Tore
 
1978 Dieter Müller, 1. FC Köln, 24 Tore
            Gerd Müller, Bayern München, 24 Tore
 
1979 Klaus Allofs, Fortuna Düsseldorf, 24 Tore
 
1980 Karl-Heinz Rummenigge, Bayern München, 26 Tore
 
1981 Karl-Heinz Rummenigge, Bayern München, 29 Tore
 
1982 Horst Hrubesch, 27 Tore
 
1983 Rudi Völler, Werder Bremen, 23 Tore
 
1984 Karl-Heinz Rummenigge, Bayern München, 26 Tore
 
1985 Klaus Allofs, 1. FC Köln, 26 Tore
 
1986 Stefan Kuntz, VfL Bochum, 26 Tore
 
1987 Uwe Rahn, Borussia Mönchengladbach, 24 Tore
 
1988 Jürgen Klinsmann, VfB Stuttgart, 19 Tore
 
1989 Thomas Allofs, 1. FC Köln, 17 Tore
            Roland Wohlfarth, Bayern München, 17 Tore
 
1990 Jörn Andersen, Eintracht Frankfurt, 18 Tore
 
1991 Roland Wohlfarth, Bayern München, 21 Tore
 
1992 Fritz Walter, VfB Stuttgart, 22 Tore
 
1993 Ulf Kirsten, Bayer Leverkusen, 20 Tore
            Anthony Yeboah, Eintracht Frankfurt, 20 Tore
 
1994 Stefan Kuntz, 1. FC Kaiserslautern, 18 Tore
            Anthony Yeboah, Eintracht Frankfurt, 18 Tore
 
1995 Mario Basler, Werder Bremen, 20 Tore
            Heiko Herrlich, Borussia Mönchengladbach, 20 Tore
 
1996 Fredi Bobic, VfB Stuttgart, 17 Tore
 
1997 Ulf Kirsten, Bayer Leverkusen, 22 Tore 
 
1998 Ulf Kirsten, Bayer Leverkusen, 22 Tore
 
1999 Michael Preetz, Hertha BSC, 23 Tore
 
2000 Martin Max, TSV 1860 München, 19 Tore
 
2001 Sergej Barbarez, Hamburger SV, 22 Tore
            Ebbe Sand, Schalke 04, 22 Tore
 
2002 Márcio Amoroso, Borussia Dortmund, 18 Tore
            Martin Max, TSV 1860 München, 18 Tore
 
2003 Thomas Christiansen, VfL Bochum, 21 Tore
            Giovane Elber, Bayern München, 21 Tore
 
2004 Ailton, Werder Bremen, 28 Tore
 
2005 Marek Mintal, 1. FC Nürnberg, 24 Tore
 
2006 Miroslav Klose, Werder Bremen, 25 Tore

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