Taktik
Restverteidigung am Rande der Legalität
Wenn die Raumkontrolle nach eigenem Ballverlust kurzzeitig nicht greift, greifen Spieler selbst in Spitzenteams zum taktischen Foul. Und das immer häufiger. Ein Spiel zwischen Legalität und Unsportlichkeit, das in vielen Mannschaften stillschweigend akzeptiert wird. Eine Analyse von Marius Thomas
Selten fallen taktische Fouls so spektakulär aus. Foto: Pixathlon
In der 96. Minute des EM-Finales 2021 stürmt Englands Bukayo Saka mit dem Ball über die rechte Außenbahn – bis ihn Italiens Giorgio Chiellini mit einem beherzten Trikotzupfer abrupt stoppt. Kein brutales Foul, keine Verletzungsgefahr – aber ein klarer Regelverstoß mit taktischem Kalkül. Die Gelbe Karte nimmt Chiellini mit einem wissenden Grinsen in Kauf. Die Szene steht sinnbildlich für eine Spielweise, die im modernen Fußball längst salonfähig geworden ist: das taktische Foul. Schon 2006 griff RUND das Thema auf, damals noch als Randphänomen – besonders häufig bei südamerikanischen oder italienischen Teams, selten als explizites Element taktischer Matchpläne benannt. Seither hat sich das Spiel rasant entwickelt: Umschaltmomente sind kürzer, Pressingstrukturen präziser, Ballverluste gefährlicher. In diesem Kontext ist das taktische Foul nicht mehr bloß ein Mittel der Verzweiflung oder Abgeklärtheit, sondern ein integraler Bestandteil strategischer Spielsteuerung geworden. Doch wie sehr hat sich der Umgang mit taktischen Fouls wirklich verändert? Wird es häufiger oder seltener eingesetzt? Geahndet oder toleriert? Und lässt es sich womöglich sogar trainieren – oder gar provozieren? Zeit für eine erneute Betrachtung, fast zwei Jahrzehnte nach dem ersten Anlauf.
Definition und taktische Funktion
Taktische Fouls sind jene kleinen Regelverstöße, die selten spektakulär wirken, aber oft spielentscheidend sind. Sie entstehen meist in Momenten, in denen eine defensive Überzahl gerade nicht vorhanden ist – etwa nach einem Ballverlust im Mittelfeld oder beim Einleiten eines gegnerischen Konters. Das Foul erfolgt dann gezielt, oft ohne übertriebene Härte, und mit dem klaren Ziel, den Spielfluss zu unterbrechen und eine potenziell gefährliche Situation zu entschärfen. Der Ball wird dabei in der Regel nicht gespielt – das Foul ist rein zweckorientiert. Typische Akteure solcher Aktionen sind zentrale Sechser, Halbraumverteidiger oder inverse Außenverteidiger, die in der Defensive oft allein oder in offener Stellung agieren müssen. Im gegenpressinglastigen Spielstil moderner Topteams – ob bei Manchester City, Bayer Leverkusen oder dem FC Barcelona – gehört das taktische Foul längst zur „Restverteidigung“ im erweiterten Sinne. Wenn die Raumkontrolle nach eigenem Ballverlust kurzzeitig nicht greift, greift der Spieler eben zur Trikotbremse. Das TF steht damit am Übergang zwischen Legalität und Unsportlichkeit – es ist kalkuliert, funktional, und wird in vielen Mannschaften stillschweigend akzeptiert. Es erfüllt eine vergleichbare Funktion wie das Foul im Basketball, um den Gegner aus dem Rhythmus zu bringen oder das Spielgeschehen neu zu strukturieren. In einer Zeit, in der Spielverläufe durch einzelne Umschaltmomente entschieden werden, wird das TF so zu einem fast schon systemisch notwendigen Element.
Von 2006 bis heute: Der Wandel
Als RUND 2006 erstmals über taktische Fouls berichtete, galten sie noch als typisch für den italienischen Catenaccio, den südamerikanischen Pragmatismus oder das verschlagene Spiel von Außenseiterteams, die auf destruktive Mittel zurückgriffen. Spieler wie Gennaro Gattuso oder Javier Mascherano wurden genannt – aggressive Abräumer, die für das „kleine Foul im richtigen Moment“ standen. Taktische Fouls waren damals selten klar definierter Bestandteil eines Matchplans, sondern Ausdruck individueller Erfahrung, Zweikampfhärte und – nicht selten – Abgeklärtheit im Grenzbereich der Regeln. Fast zwei Jahrzehnte später hat sich das Bild gewandelt. Taktische Fouls sind heute Bestandteil hochstrukturierter Spielsysteme – besonders in Teams mit dominantem Ballbesitzspiel und hoch aufgerückten Positionierungen. Kein Trainer hat diese Entwicklung so stark geprägt wie Pep Guardiola. Bereits beim FC Barcelona, später bei Bayern München und schließlich bei Manchester City wurde das taktische Foul unter ihm zu einem systemstabilisierenden Element. Wenn das Positionsspiel nicht greift und der Gegner ins Laufen kommt, greift der absichernde Spieler – ob Busquets, Fernandinho oder Rodri – im richtigen Moment ein. Schnell, kurz, konsequent. Auch Jürgen Klopp hat in Interviews betont, dass es „keine Schande“ sei, ein Foul zu ziehen, wenn man den Konter sonst nicht aufhalten kann. Seine Pressing-Teams bei Dortmund und Liverpool erzeugten so viel Raumdruck, dass die wenigen Brüche in der Struktur oft nur noch durch Fouls korrigierbar waren. Das TF ist also längst nicht mehr das Mittel destruktiver Außenseiter – es ist integraler Bestandteil hochambitionierter, spielkontrollierender Teams. Selbst Clubs wie Union Berlin oder Bologna, deren Defensivpressing stark auf Kompaktheit und Zerstörung ausgelegt ist, setzen taktische Fouls gezielt ein, um Übergangsphasen zu unterbrechen. Was 2006 noch wie eine Grauzone aussah, ist heute beinahe ein taktisches Stilmittel. Die Grauzone aber ist geblieben – nur ihre Nutzer sind heute raffinierter.
Wird das taktische Foul trainiert?
Offiziell taucht das taktische Foul in kaum einem Trainingsplan auf – schon gar nicht im Jugendbereich. Schließlich handelt es sich per Definition um einen Regelverstoß. Doch in der Praxis ist längst klar: Das „gezielte Foul im richtigen Moment“ ist keine spontane Eingebung, sondern das Resultat taktischer Schulung, Entscheidungsfähigkeit und situativer Reife. Und genau das wird trainiert – wenn auch zwischen den Zeilen. Im modernen Profifußball gehören Umschaltmomente zu den kritischsten Phasen des Spiels. Trainer geben ihren Spielern daher klare Prinzipien an die Hand: „Verliere ich den Ball – was passiert dann?“ Wird das Gegenpressing nicht sofort greifen, bleibt oft nur das Foul als letzte Option. Pep Guardiola etwa hat mehrfach betont, wie wichtig es sei, nach einem Ballverlust sofort Druck zu machen – „and if not, we foul“. Auch José Mourinho sagte einst trocken: „If you have no chance to win the ball – stop the play.“ Dass dieses Verhalten kein Zufall ist, zeigt sich auf dem Trainingsplatz: Zwar wird das Foul selbst nicht geübt, wohl aber das Verhalten, das dazu führt. In Spielformen wie 7-gegen-7 mit Umschaltregel trainieren Teams das schnelle Zurückschalten in die defensive Ordnung – und wenn das nicht klappt, folgt eben das Foul. In Videoanalysen wird dann auch die Entscheidung, ob ein Spieler gefoult hat oder nicht, nachbesprochen: War es nötig? War es klug? In Nachwuchsleistungszentren wird das Thema sensibler gehandhabt. Offiziell wird kein Trainer sagen, dass er taktische Fouls trainieren lässt. Aber in Spielbesprechungen ist das Prinzip durchaus präsent – vor allem, wenn es darum geht, Konter mit „aller Konsequenz“ zu unterbinden. Die Grenze ist fließend: Zwischen taktischem Verhalten und unsportlichem Handeln liegt oft nur ein kurzer Trikotzupfer.
Regelpraxis: Wie gehen Schiedsrichter heute damit um?
Die Regel zum taktischen Foul ist eigentlich eindeutig: „Ein absichtliches Foul zur Unterbindung eines aussichtsreichen Angriffs“ ist mit einer Gelben Karte zu bestrafen. Doch die Praxis ist – wie so oft im Fußball – weitaus komplizierter. Wann ist ein Angriff „aussichtsreich“? Wann genügt ein leichter Rempler für Gelb, wann wird er als „normaler Zweikampf“ gewertet? Und wie konsequent wird das taktische Foul überhaupt geahndet? Die Beobachtung: Schiedsrichter haben in den letzten Jahren durchaus sensibler auf taktische Fouls reagiert, insbesondere im Übergangsspiel. Laut IFAB-Vorgaben und FIFA-Schulungen wird explizit auf die Verhinderung vielversprechender Angriffe geachtet. Dennoch bleibt die Auslegung subjektiv. Ein taktisches Foul im Mittelfeld wird in der Bundesliga häufig mit Gelb bestraft – aber eben nicht immer. In der Champions League zeigt sich eine strengere Linie: UEFA-Schiedsrichter ahnden solche Aktionen konsequenter, teils auch mit Gelb-Rot bei wiederholten Verstößen.
Ehemalige Referees wie Manuel Gräfe oder Knut Kircher betonen regelmäßig, dass taktische Fouls „zum Spiel gehören“, aber klarer als solche erkannt und geahndet werden müssten. Gräfe kritisierte etwa die zunehmende Akzeptanz solcher Aktionen bei Topteams: „Das hat mit Fair Play wenig zu tun, aber es wird eben clever gemacht.“ Die Schwierigkeit liegt darin, dass viele TFs im Grenzbereich zwischen normalem Zweikampf und kalkulierter Unterbrechung stattfinden – mit einer gewissen Cleverness in der Dosierung von Härte und Körperkontakt. Unterm Strich bleibt: Die Schiedsrichter sind sensibilisiert, aber nicht einheitlich. Und solange taktische Fouls nicht klarer kategorisiert oder durch Regelverschärfungen erfasst werden, bleibt die Grauzone bestehen – zugunsten derer, die sie geschickt zu nutzen wissen.
Datenlage: Häufigkeit, Gelbe Karten, Ländervergleich
Die statistische Erfassung von taktischen Fouls ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Offizielle Spielstatistiken unterscheiden in der Regel nicht zwischen „normalen“ Fouls und solchen mit klar taktischem Zweck. Anbieter wie Opta, Wyscout oder StatsBomb nutzen deshalb Filter wie „Foul – keine Ballabsicht – in Umschaltphase“, um TFs zu identifizieren. Dabei zeigt sich: Das taktische Foul ist längst kein Randphänomen mehr. Ein Blick in die Premier-League-Saison 2023/24: Manchester City führte die Liga bei Fouls im Mittelfeld nach Ballverlust an – im Schnitt knapp acht pro Spiel, davon mehr als die Hälfte in klaren Umschaltmomenten. Rodri allein sammelte 12 Gelbe Karten, ein Großteil davon für taktische Vergehen. In der Bundesliga fällt auf, dass Teams wie Bayer Leverkusen oder der SC Freiburg ebenfalls hohe Quoten an solchen Fouls aufweisen – nicht als Zufall, sondern als Nebenprodukt ihres aggressiven Gegenpressings.
Vergleich europäischer Topligen zeigt deutliche Unterschiede:
Serie A: Höchste TF-Quote unter den Top-5-Ligen. Italienische Teams unterbrechen Konter konsequent und häufig schon in der gegnerischen Hälfte.
Premier League: Hohe TF-Zahlen bei dominanten Ballbesitzteams, aber tendenziell strengere Ahndung.
Bundesliga: Insgesamt weniger TFs als in Italien oder England, aber steigende Tendenz bei Pressingteams.
La Liga: Auffällig viele TFs durch technisch starke Mittelfeldspieler, oft im Rahmen des Positionsspiels.
Die Gelben Karten für TFs sind ebenfalls im Steigen begriffen. Während laut DFB-Statistik 2010/11 nur rund 6 Prozent aller Gelben Karten wegen „Verhinderung eines aussichtsreichen Angriffs“ gezeigt wurden, liegt der Anteil in den letzten drei Saisons konstant zwischen 9 und 11 Prozent. Das zeigt: Schiedsrichter greifen häufiger durch – aber die Zahl der taktischen Fouls sinkt dadurch nicht. Im Gegenteil: Solange der Nutzen eines gestoppten Konters den Preis einer Gelben Karte überwiegt, wird dieses Mittel weiter eingesetzt werden.
Provokation und Grauzone: Ist das TF manipulierbar?
Taktische Fouls sind nicht nur ein Werkzeug der verteidigenden Mannschaft – sie lassen sich auch gezielt provozieren. Gerade technisch starke Spieler nutzen die Kenntnis um das gegnerische Restverteidigungsverhalten zu ihrem Vorteil. Ein klassisches Beispiel: Der Ballführende hält den Ball in einer Pressingsituation bewusst einen Tick länger, zwingt den Gegenspieler zum Zugreifen und kassiert damit nicht nur den Freistoß, sondern oft auch eine Gelbe Karte. Dieses „Locken ins Foul“ ist eine Kunstform für sich. Neymar, Jack Grealish oder früher auch Arjen Robben beherrschten sie meisterhaft. Sie suchen Körperkontakt in dem Moment, in dem der Verteidiger noch in vollem Lauf ist, wodurch selbst ein leichter Schubser wie eine klare Unterbindung eines Angriffs wirkt.
Für Schiedsrichter ist die Abgrenzung schwierig: War es ein kalkulierter Kontakt, den der Angreifer gesucht hat, oder tatsächlich ein zwingendes Foul? Auch taktische Fouls können ins Theatrale überführt werden – etwa wenn ein minimaler Zupfer durch ein spektakuläres Fallenlassen verstärkt wird. So entsteht eine doppelte Manipulation: Der Angreifer provoziert die Situation, der Verteidiger reagiert instinktiv, und am Ende wirkt das Foul eindeutiger, als es tatsächlich war. Die Grauzone bleibt damit beidseitig besetzt. Verteidiger nutzen sie, um gefährliche Situationen zu entschärfen, Angreifer, um gefährliche Standards zu erzwingen oder Schlüsselspieler des Gegners früh zu verwarnen. Für das Spiel ist das eine psychologische wie taktische Komponente – und ein ständiger Balanceakt zwischen Cleverness und Unsportlichkeit.
Ausblick und Bewertung
Taktische Fouls werden den Fußball auch in den kommenden Jahren begleiten – und vermutlich eher noch zunehmen. Die Entwicklung hin zu schnelleren Umschaltmomenten, kompakteren Defensivstrukturen und immer präziserer Positionsspiel-Mechanik sorgt dafür, dass ein einziger Ballverlust gravierende Folgen haben kann. Solange das Unterbrechen eines Angriffs mit einem leichten Zupfer oder Rempler effizienter ist als das Risiko eines Gegentors, bleibt das TF ein probates Mittel – unabhängig von moralischen Diskussionen. Regelverschärfungen könnten hier nur begrenzt Wirkung entfalten. Selbst wenn Schiedsrichter noch konsequenter Gelbe Karten verteilen, bleibt der Preis für ein taktisches Foul oft verhältnismäßig niedrig – insbesondere für Spieler, die ihre Sperren taktisch timen können. Denkbar wäre eine Anpassung wie im Handball, wo wiederholte taktische Fouls stärker sanktioniert werden, doch ein solcher Schritt würde massiv in den Spielfluss eingreifen.
Der Blick zurück auf den RUND-Artikel von 2006 zeigt, wie sehr sich die Perspektive verschoben hat: Damals noch ein eher „schmutziges“ Element spezifischer Spielkulturen, heute ein universelles Werkzeug – vom Tabellenführer bis zum Abstiegskandidaten. Das taktische Foul ist zu einem festen Bestandteil des strategischen Repertoires geworden. Es ist und bleibt eine Grauzone: ein Mittel, das den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen kann, aber gleichzeitig das Ideal des „Fair Play“ unterwandert. Vielleicht liegt gerade darin sein Reiz – und seine Unausweichlichkeit.
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