Taktik

Revolution von Außen (Teil II)

Außenverteidiger sind mittlerweile Spielgestalter, Läufer, Absicherer und Unruheherd in einem. RUND erzählt die nächsten Kapitel der Geschichte einer häufig unterschätzten Position. Eine Analyse von Marius Thomas

 

Philipp Lahm
Spieler wie Philipp Lahm zeigten, dass ein Außenverteidiger mehr sein konnte als ein Flankengeber mit Defensivaufgaben. Foto Pixathlon

 

Als Pep Guardiola 2016 bei Manchester City anfing, rückte er plötzlich seine Außenverteidiger ins Zentrum. Statt die Linie entlangzulaufen wie Cafu oder Roberto Carlos, standen Bacary Sagna oder später João Cancelo plötzlich neben dem Sechser, ließen die Flügel leer und eröffneten das Spiel wie Mittelfeldspieler. Es war ein Bruch mit jahrzehntelanger Tradition – und zugleich der Startschuss für die radikale Neudefinition einer Position. Außenverteidiger waren lange Zeit das Abstellgleis des Fußballs: solide Verteidiger, die nach vorne „mitgehen“, aber selten den Unterschied machen. Ein RUND-Text von 2006 griff diese Rolle bereits auf und zeigte: Hier ist Bewegung drin. Doch niemand hätte geahnt, dass gerade die Außenverteidiger sich in weniger als zwei Jahrzehnten zu den wohl variabelsten und komplexesten Spielertypen auf dem Platz entwickeln würden. Heute sind sie Spielmacher, Pressingauslöser, Hybridverteidiger und Tiefenläufer in einem. Kaum eine andere Position hat den Fußball taktisch so verändert – und kaum eine steht so sinnbildlich für die Verschmelzung von Offensive und Defensive im modernen Spiel.

Definition und Grundrolle
Der klassische Außenverteidiger hatte eine klar umrissene Aufgabe: die defensive Absicherung des Flügels und gelegentliche Vorstöße entlang der Linie. Er war das Bindeglied zwischen Innenverteidigung und Flügelstürmer, zuständig für Zweikämpfe gegen Dribbler, Flankenläufe und die Absicherung der Seiten. Spieler wie Gary Neville, Gianluca Zambrotta oder Christian Ziege verkörperten diesen Typ – solide, laufstark, verlässlich, aber selten im Rampenlicht. Im modernen Fußball ist diese Eindeutigkeit verschwunden. Außenverteidiger sind keine eindimensionalen Flügelläufer mehr, sondern multifunktionale Akteure, die je nach System völlig unterschiedliche Rollen einnehmen können. Mal schieben sie extrem hoch, um dem Spiel Breite zu geben, mal rücken sie ein, um im Halbraum als zusätzliche Mittelfeldspieler zu agieren. In manchen Teams übernehmen sie sogar die Rolle des tiefsten Spielmachers, der aus der Abwehr heraus die Angriffe lenkt. Damit sind Außenverteidiger heute Hybridspieler: Verteidiger, Mittelfeldakteure und manchmal sogar Stürmer in Personalunion. Ihr Aufgabenprofil ist breiter als das jeder anderen Position. Die Entwicklung dieser Rolle steht exemplarisch für den modernen Fußball – ein Spiel, das nicht mehr in starren Positionen gedacht wird, sondern in Räumen, Dynamiken und Übergängen.

Von 2006 bis heute: Evolution einer Position
Als RUND 2006 über Außenverteidiger schrieb, war die Position bereits im Wandel begriffen. Spieler wie Philipp Lahm oder Ashley Cole zeigten, dass ein Außenverteidiger mehr sein konnte als ein Flankengeber mit Defensivaufgaben. Doch die damalige Entwicklung wirkte noch vergleichsweise linear: mehr Offensive, mehr Dynamik, mehr Einbindung ins Spiel. Die wahre Revolution sollte erst danach folgen. Mit Pep Guardiola erhielt die Rolle eine neue Dimension. In seiner Bayern-Zeit machte er Lahm vom Außenverteidiger zum „inversen Sechser“, der ins Zentrum rückte und das Spiel von dort ordnete. Später bei Manchester City perfektionierte er dieses Prinzip mit Spielern wie João Cancelo, die nominell Außenverteidiger waren, aber in Ballbesitz faktisch im Mittelfeld spielten. Guardiola machte die Position zu einem Schlüssel für Überladungen im Zentrum – ein Mittel, um den steigenden Pressingdruck im modernen Fußball zu umgehen. Parallel dazu entwickelte Jürgen Klopp ein anderes Rollenverständnis. Seine Außenverteidiger bei Liverpool, Trent Alexander-Arnold und Andrew Robertson, wurden zu den wichtigsten Kreativspielern der Mannschaft – Breitegeber, Flankengeber, Vorlagenkönige. Während Guardiola den Außenverteidiger ins Zentrum zog, ließ Klopp sie die Flügel dominieren. Zwei Ansätze, ein gemeinsames Ergebnis: Der Außenverteidiger war nicht mehr Beiwerk, sondern Dreh- und Angelpunkt. Heute reicht die Bandbreite von Alphonso Davies, der als Tiefenläufer die Seitenlinie bearbeitet, bis zu Benjamin Henrichs oder Joshua Kimmich, die phasenweise im Mittelfeld auftreten. Inzwischen gibt es kaum ein Topteam, das den Außenverteidiger noch rein traditionell interpretiert. Aus einer Position am Rand des Feldes ist in knapp zwei Jahrzehnten eine der einflussreichsten Schaltstellen des modernen Fußballs geworden.

Neue Rollenbilder
Die Vielseitigkeit moderner Außenverteidiger lässt sich in mehrere Rollenbilder fassen, die sich je nach Trainer, System und Spielidee unterscheiden – und die oft sogar innerhalb eines Spiels wechseln.

Der Inverted Full-Back: Er rückt aus der Außenbahn konsequent ins Zentrum ein, meist in Ballbesitz. Philipp Lahm unter Guardiola war das prominenteste Beispiel, heute sind es Oleksandr Zinchenko bei Arsenal oder Joshua Kimmich bei der deutschen Nationalmannschaft. Diese Spieler erzeugen Überzahl im Mittelfeld, stützen das Aufbauspiel und geben ihrer Mannschaft zusätzliche Kontrolle.

Der Breitegeber und Sprinter: Alphonso Davies, Jeremie Frimpong oder Achraf Hakimi stehen für den klassischen Vorwärtsdrang, der aber durch Geschwindigkeit und Konstanz auf ein neues Level gehoben wurde. Sie halten die Linie, sorgen für Tiefenläufe hinter die Kette und werden so zu permanenten Unruheherden.

Der Quarterback: Trent Alexander-Arnold ist hier der Prototyp. Aus einer tiefen Position schlägt er präzise Diagonalbälle, öffnet das Spiel wie ein Spielmacher und verlagert das Geschehen mit einer Passqualität, die man sonst von zentralen Mittelfeldspielern erwartet. Der Außenverteidiger als Initiator von Angriffen – ein Paradigmenwechsel.

Der Hybridspieler: Eine Sonderform, die in jüngster Zeit häufiger auftaucht: Außenverteidiger, die mal in der Viererkette, mal in der Dreierkette, mal als Sechser agieren. Benjamin Henrichs bei RB Leipzig oder Stones bei City sind Beispiele. Diese Spieler verschieben ihre Rolle je nach Phase des Spiels, was Gegnern enorme Anpassungsprobleme bereitet.

Allen Rollenbildern gemeinsam ist: Der Außenverteidiger ist keine Randfigur mehr. Er ist Spielgestalter, Läufer, Absicherer und Unruheherd in einem – ein Chamäleon, das ständig neue Aufgaben übernimmt.

Training und Ausbildung
Noch vor 20 Jahren galt die Außenverteidiger-Position als „Abstellgleis“: Wer für das Mittelfeld zu limitiert und für die Innenverteidigung zu klein war, landete außen. Talentierte Nachwuchsspieler strebten nach vorne ins Zentrum, während der Außenverteidiger in vielen Jugendmannschaften eher als Notlösung besetzt wurde. Heute hat sich dieses Bild radikal verändert. Außenverteidiger müssen technisch so sauber sein wie zentrale Mittelfeldspieler, athletisch so dynamisch wie Flügelstürmer und gleichzeitig die Defensivdisziplin eines klassischen Verteidigers mitbringen. Im Nachwuchsbereich bedeutet das: Wer als Außenverteidiger ausgebildet wird, braucht ein komplettes Profil – Ballkontrolle unter Druck, Passspiel in engen Räumen, Sprintfähigkeit auf langen Distanzen, dazu taktische Intelligenz für flexible Rollen. Das spiegelt sich auch in den Daten wider: Außenverteidiger gehören in vielen Ligen mittlerweile zu den Spielern mit den meisten Ballkontakten pro Partie. In der Bundesliga 2023/24 etwa hatten einige von ihnen im Schnitt mehr Ballaktionen als die zentralen Mittelfeldspieler ihres Teams. Für Nachwuchsleistungszentren heißt das: Außenverteidiger werden nicht mehr „durchgeschoben“, sondern gezielt als Schlüsselspieler gefördert. Die Ausbildung verlangt dabei Vielseitigkeit. Schon im U17- oder U19-Bereich werden AVs in Spielformen geschult, die sowohl das Einrücken ins Zentrum als auch das Halten der Breite erfordern. Die Positionsrolle gilt heute als eine der anspruchsvollsten überhaupt – und hat sich vom Abstellgleis zum Premium-Lehrplatz für Allrounder entwickelt.

Datenlage und statistische Bedeutung
Dass Außenverteidiger heute zu den zentralen Figuren des Spiels zählen, zeigt sich auch in den Zahlen. Während sie früher vor allem über Laufleistung und Zweikampfstatistiken definiert wurden, dominieren sie mittlerweile in Kategorien, die traditionell Mittelfeldspielern vorbehalten waren. Ein Beispiel: In der Premier League 2022/23 gehörte Trent Alexander-Arnold zu den Top-5 in „Shot-Creating Actions“ – also direkten Vorlagen zu Abschlüssen. João Cancelo lag in seiner besten City-Saison unter den ligaweiten Spitzenreitern bei „Progressive Passes“. Und Alphonso Davies führt regelmäßig die Bundesliga-Statistiken für progressive Läufe und Raumgewinne an. Außenverteidiger sind nicht mehr Statisten, sondern Motoren des Offensivspiels. Auch die Laufleistung belegt ihre Bedeutung. In vielen Ligen gehören AVs zu den Spielern mit den meisten Kilometern pro Partie – und sie kombinieren dabei hohe Grundbelastung mit intensiven Sprints. Ein moderner Außenverteidiger muss im Schnitt über 30 Sprints pro Spiel absolvieren und gleichzeitig über 80 bis 100 Ballkontakte verarbeiten. Diese Doppelbelastung macht die Rolle physisch wie kognitiv extrem anspruchsvoll. Ein Blick auf den internationalen Vergleich zeigt Unterschiede: In der Serie A sind Außenverteidiger stärker in die Defensive eingebunden, weniger dominant im Aufbau. In der Premier League hingegen tragen sie massiv zur Kreativität bei, oft als zweite Spielmacher neben dem Zehner. Die Bundesliga bietet eine Mischform: dynamische Läufer wie Frimpong oder Davies stehen neben inversen Lösungen wie bei Leipzig oder Leverkusen. Die Statistik macht damit deutlich: Außenverteidiger sind heute nicht nur Mitläufer. Sie prägen Ballbesitz, Raumgewinn und Torchancen – und sind damit unverzichtbare Bausteine moderner Systeme.

Grenzen und Probleme
So unverzichtbar Außenverteidiger im modernen Fußball geworden sind, so groß sind auch die Risiken, die ihre neue Rolle mit sich bringt. Die Verschmelzung von Offensiv- und Defensivaufgaben führt zwangsläufig zu Spannungen – und manchmal zu Überforderung. Ein Kernproblem: die defensive Absicherung. Wenn Außenverteidiger ins Zentrum einrücken oder extrem hoch stehen, bleiben die Flügelzonen oft unbesetzt. Schnelle Gegenspieler können diese Räume gezielt attackieren. Beispiele dafür gab es zuhauf – etwa als Real Madrids Vinícius Júnior in den letzten Champions-League-Jahren immer wieder auf verwaiste Außenbahnen stieß und dort Überzahl schuf. Auch konditionell stoßen viele Außenverteidiger an Grenzen. Die Rolle verlangt konstante Sprints, gleichzeitig Präzision im Passspiel und Wachsamkeit in der Restverteidigung. Fehler werden dabei sofort bestraft. Teams ohne kollektiv abgestimmtes Gegenpressing laufen Gefahr, dass ihre Außenverteidiger zu leicht überspielt werden – mit fatalen Folgen für die Stabilität. Hinzu kommt die Gefahr der „Überladung“: Manche Trainer erwarten von ihren AVs, gleichzeitig Spielmacher, Läufer und Abwehrspieler zu sein. Nicht jeder Spielerprofil kann diese Vielschichtigkeit leisten. Gerade auf internationalem Topniveau zeigt sich, dass selbst hochbegabte Außenverteidiger an den Balanceanforderungen scheitern können, wenn das mannschaftliche Kollektiv nicht passt. Kurz gesagt: Die moderne Außenverteidigerrolle eröffnet enorme Möglichkeiten – aber sie ist riskant. Wer sie nutzt, muss das ganze Team darauf abstimmen. Sonst wird aus der Schlüsselfigur schnell die Achillesferse.

Ein Blick in die Zukunft
Der Außenverteidiger ist zur Schlüsselfigur des modernen Spiels geworden – und es spricht vieles dafür, dass seine Bedeutung noch weiter wächst. Mit dem Trend zu immer flexibleren Grundordnungen, hybriden Rollen und spielstarken Verteidigern ist die Position so variabel wie keine andere. Während Stürmer oder klassische Zehner aus vielen Systemen verschwinden, bleibt der Außenverteidiger unverzichtbar – weil er Räume besetzt, die sonst unkontrollierbar wären. In Zukunft dürfte die Entwicklung in zwei Richtungen verlaufen: Einerseits werden die Anforderungen an Vielseitigkeit weiter steigen. Junge Spieler müssen in der Lage sein, nahtlos zwischen Außenbahn, Zentrum und Aufbau zu wechseln. Andererseits könnten wir eine Spezialisierung erleben: Manche Teams setzen auf die Quarterback-Variante à la Alexander-Arnold, andere auf pure Geschwindigkeit wie bei Davies. Das Profil des „Alleskönners“ könnte so durch unterschiedliche, klarere Typen ergänzt werden. Ein Blick auf die aktuelle Taktiklandschaft zeigt zudem: Trainer suchen ständig nach Wegen, die Außenverteidiger noch stärker einzubinden. Ob Dreierkette mit asymmetrischem AV, ob invertierte Rolle oder gar komplette Umfunktionierung zum Sechser – die Position bleibt ein Experimentierfeld. Für die Bewertung lässt sich festhalten: Außenverteidiger sind keine Randfiguren mehr. Sie sind die vielleicht repräsentativste Position des modernen Fußballs – universell, laufintensiv, taktisch anspruchsvoll. Aus dem einstigen Abstellgleis ist die Bühne geworden, auf der sich Innovation und Kreativität der Trainer am deutlichsten zeigen. Im RUND-Artikel von 2006 konnte die Dimension dieser Entwicklung nur angedeutet werden. Heute, knapp zwei Jahrzehnte später, ist klar: Wer den Fußball von morgen verstehen will, muss die Außenverteidiger von heute beobachten.
 
 
 
 
 
 
 

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