Taktikreport

Evolution statt Revolution

Die Premier League bleibt ein Taktiklabor. Verändert sie sich gerade zu einem rückschrittlichen Fußball, der mit langen Bällen operiert?  Eine Analyse von Marius Thomas

Physischer Fußball in der Premier League. Foto Pixathlon

 

Die Premier League – lange Synonym für temporeichen, physischen Fußball mit Flanken, schnellen Kontern und endlosen Box-to-Box-Duellen – soll sich derzeit grundlegend verändern. Von einem Paradigmenwechsel ist die Rede, von einem Fußball, der „höher, länger, weiter“ spielt, geprägt durch direktere Angriffe, längere Bälle und ein noch höheres Tempo. Athletik, Umschaltspiel und vertikale Aktionen sollen den Ballbesitzfußball der letzten Jahre ablösen. Doch wie viel Substanz steckt in dieser Diagnose? Handelt es sich tatsächlich um eine radikale Neuausrichtung oder vielmehr um eine logische Anpassung an Pressingdruck, Gegnerqualität und die stetig steigende Athletik? Während einige Teams stärker auf Vertikalität setzen, bleiben andere dem Ballbesitzspiel treu. Um die Lage einzuordnen, lohnt ein Blick in die Entwicklung der Liga, auf statistische Indikatoren und konkrete Fallbeispiele.

Was meint Paradigmenwechsel überhaupt?
Ein Paradigmenwechsel ist mehr als eine taktische Anpassung oder ein kurzfristiger Trend. Von einem Paradigmenwechsel spricht man erst dann, wenn sich die grundlegende Spielphilosophie dauerhaft verändert und eine Liga oder gar den internationalen Fußball prägt. Im Falle der Premier League wäre das die Abkehr von einem kontrollierten Ballbesitzspiel, das viele Jahre als Nonplusultra galt, hin zu einer konsequent vertikalen Offensive, in der Geduld durch Direktheit ersetzt wird. Erst wenn eine Mehrheit der Teams diesen Ansatz nicht nur situativ, sondern als Kernprinzip etabliert, kann man von Revolution sprechen. Alles andere sind graduelle Verschiebungen, also eine Evolution innerhalb eines bestehenden Rahmens.

Historischer Rückblick 
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Premier League verdeutlicht, dass Wandel schon immer Teil ihrer Identität war. In den 1990er-Jahren dominierte ein Fußball, den man heute fast klischeehaft mit England verbindet: robuste Verteidiger, Flankenläufe, lange Bälle und eine atemberaubende Physis, die Spiele oft zu reinen Willensschlachten machten. Sir Alex Fergusons Manchester United stand exemplarisch für diese Zeit – aggressiv, direkt, mit Fokus auf die Flügel und einer unbändigen Siegermentalität. Mit Arsène Wenger und José Mourinho veränderte sich das Bild ab den 2000er-Jahren. Wengers Arsenal brachte Leichtigkeit, Technik und ein fluides Positionsspiel, das die englische Härte mit französisch geprägter Ballzirkulation kombinierte. Mourinho setzte dagegen auf defensive Organisation und gezielte Umschaltmomente, die Chelsea zu einem dominanten Machtfaktor machten. Strukturelle Organisation, klare taktische Mechanismen und ein höherer Anspruch an Raumaufteilung ergänzten den physischen Stil, ohne ihn vollständig zu verdrängen.

Den vielleicht einschneidendsten Wandel brachten die 2010er-Jahre, als Pep Guardiola nach Manchester kam. Sein Positionsspiel, die konsequente Ballzirkulation und die Idee, den Gegner über Kontrolle zu dominieren, setzten neue Maßstäbe. Manchester City prägte eine ganze Dekade, Ballbesitz war nicht nur Stilmittel, sondern Identitätsmarker der Spitzenteams. Auch Jürgen Klopps „Heavy Metal“-Pressing in Liverpool fügte eine weitere Dimension hinzu: extremer Druck, Gegenpressing und schnelles Vertikalspiel nach Ballgewinn. Die Premier League war spätestens seitdem kein monolithisches Konstrukt mehr, sondern eine Liga, in der unterschiedliche Stile auf höchstem Niveau nebeneinander existierten. Heute jedoch scheint sich die Liga erneut in eine andere Richtung zu bewegen: nicht zurück zum reinen Kick-and-Rush, sondern hin zu einer modernen Mischform, in der Kontrolle und Direktheit bewusst kombiniert werden.

Datenlage: Mehr Tempo, mehr lange Bälle?
Die Statistiken der letzten Jahre deuten darauf hin, dass sich die Spielweise verändert hat. Laut Opta ist die durchschnittliche Ballbesitzdauer pro Angriff seit 2018 um knapp 12 Prozent gesunken. Die Anzahl der Pässe pro Angriff liegt in dieser Saison bei rund 3,1 – ein Wert, der niedriger ist als noch vor fünf Jahren, als er bei 3,6 lag. Gleichzeitig sind die „progressive Passes“ und langen Bälle wieder angestiegen: In der Saison 2019/20 verzeichnete die Liga im Schnitt 37 lange Zuspiele pro Spiel, 2023/24 lag der Wert bereits bei über 44. Auch die „direct attacks“, also Angriffe, die innerhalb von weniger als zehn Sekunden mit einem Abschluss enden, haben in den letzten drei Jahren zugenommen. Teams wie Aston Villa, Newcastle oder West Ham liegen hier in den Top-Rängen Europas. Gleichzeitig bleibt der Ballbesitzfußball präsent: Manchester City führt die Liga weiterhin mit durchschnittlich über 62 Prozent Ballbesitz an, Arsenal liegt bei rund 58 Prozent. Die Zahlen sprechen also eine doppelte Sprache: Vertikalität und Tempo nehmen zu, ohne dass die Liga dadurch ihre Vielfalt verliert. Von einem radikalen Bruch kann keine Rede sein.

Der Einfluss der Trainer
Ein entscheidender Faktor für diese Entwicklung sind die Trainer. Pep Guardiola bleibt das schlagende Beispiel für ein Gegenmodell. Manchester City kontrollierte in der letzten Saison nach wie vor über Ballbesitz, Positionsspiel und gezielte Passfolgen, um den Gegner Stück für Stück auseinanderzuziehen. Mikel Arteta verfolgt in Arsenal einen hybriden Ansatz. Seine Mannschaft kombiniert Guardiolas Prinzipien mit einer größeren Bereitschaft zum direkten Umschalten. Arsenal sucht situativ die Tiefe, gerade nach Ballgewinnen, und wirkt dadurch flexibler als das Vorbild aus Manchester. Unai Emery in Aston Villa gilt als Paradevertreter der neuen Direktheit. Sein Team baut bewusst auf lange Bälle, schnelle Flügelangriffe und vertikale Übergänge, um Defensivreihen frühzeitig unter Druck zu setzen. Newcastle unter Eddie Howe wiederum ist ein Beispiel für ein physisch geprägtes Direktspiel, das sich nicht nur auf Umschaltmomente, sondern auch auf bewusste Überladungen im zweiten Ball stützt. Tottenham unter Ange Postecoglou zeigte einen eher kontrollierten Ansatz, blieb aber flexibel genug, um vertikale Momente gezielt einzustreuen. Erik ten Hag bei Manchester United schwankte noch zwischen Ballbesitzorientierung und Umschaltspiel – seine Mannschaft stand damit sinnbildlich für eine Liga, die derzeit keinen klaren Konsens kennt.

Einflussfaktoren: Athletik, Pressing, Spielrhythmus
Warum aber entstehen diese Tendenzen gerade jetzt? Drei Faktoren sind ausschlaggebend. Erstens die Athletik: Spieler sind schneller, kräftiger und ausdauernder als noch vor zehn Jahren. Umschaltfußball profitiert davon massiv, weil er nicht nur effektiver, sondern auch schwieriger zu verteidigen ist. Zweitens das Pressing: Immer mehr Teams greifen den Gegner früh und aggressiv an. Lange Bälle sind die logische Antwort auf diese Intensität, weil sie Pressinglinien sofort überspielen und Raumgewinne ohne Risiko im eigenen Drittel ermöglichen. Drittens der Spielrhythmus: Die Premier League ist nach wie vor die intensivste Liga der Welt. Schnelle, direkte Aktionen verkürzen Ballbesitzphasen, erhöhen die Unberechenbarkeit und sorgen dafür, dass Spiele selten in statische Muster verfallen. Dazu kommt ein vierter Punkt: die Spielpläne. Mit der Belastung durch Champions League, Europa League und zusätzliche Wettbewerbe sind viele Trainer gezwungen, ökonomischer zu denken. Längere Ballzirkulationen ermüden Spieler stärker, während schnelle, vertikale Angriffe im Schnitt weniger Laufarbeit in komplexen Passstrukturen erfordern. Direktheit ist nicht nur ein taktisches, sondern auch ein konditionelles Mittel.

Einige Beispiele
Besonders deutlich wird dies in den Fallbeispielen. Arsenal hat sich unter Arteta zu einem Team entwickelt, das Ballbesitzphasen geschickt mit Umschaltmomenten verbindet. Nach Ballgewinnen sucht die Mannschaft sofort die Tiefe, lange Zuspiele hinter die Abwehr sind mittlerweile ein bewusst eingesetztes Stilmittel. Liverpool unter Slot setzt auf eine flexible Mischung: kontrollierte Ballzirkulation wechselt sich mit schnellen vertikalen Angriffen ab, lange Pässe werden punktuell genutzt, um Gegner auseinanderzuziehen. Aston Villa ist das Paradebeispiel des neuen Trends. Emerys Mannschaft agiert kompromissloser, mit klarer Vertikalität, schnellen Angriffen über die Flügel und einer hohen Frequenz an langen Zuspielen. Newcastle unter Howe steht für kompromisslose Intensität. Aggressives Pressing, schnelle Umschaltmomente und konsequente Flügelangriffe machen das Team zu einem Musterbeispiel für „höher, länger, weiter“. West Ham wiederum verkörpert den klassischen Premier-League-Mittelweg: mit David Moyes setzt die Mannschaft auf einen tiefen Block, viele Standards und lange Bälle, um über Antonio oder Bowen direkt in die Tiefe zu gehen. Und schließlich Manchester City: Guardiola bleibt der Fels in der Brandung, sein Team definiert Dominanz weiterhin über Passkontrolle und Raumüberladung. Nur punktuell setzt City auf lange Bälle – meist als taktisches Werkzeug, nicht als Grundprinzip.
 
Grenzen der These
Genau darin liegt auch die Grenze der These. Die Vorstellung, die Premier League spiele nun geschlossen „höher, länger, weiter“, greift zu kurz. Ja, einzelne Teams setzen vermehrt auf Direktspiel. Ja, die Liga wirkt insgesamt schneller und vertikaler. Aber ebenso wahr ist, dass Ballbesitz weiterhin ein funktionierendes Mittel darstellt, wie Manchester City eindrucksvoll beweist. Auch die Daten zeigen keine radikalen Sprünge, sondern graduelle Veränderungen. Viel spricht also dafür, dass wir es mit einer Evolution zu tun haben, mit Anpassungen an Gegner, an Pressingdruck, an die physische Belastung der Spieler – aber nicht mit einem Paradigmenwechsel, der das Fundament des Spiels neu definiert.

Ein Ausblick 
Was bedeutet das für die Zukunft? Wahrscheinlich, dass die Premier League ein Taktiklabor bleibt, in dem verschiedenste Ansätze nebeneinander existieren. Direktspiel und Umschaltmomente werden eine noch größere Rolle spielen, weil Athletik und Intensität dies begünstigen. Gleichzeitig wird Ballbesitz nicht verschwinden, sondern als stabilisierendes Element und als Mittel gegen extrem aggressive Gegner bestehen bleiben. Entscheidend wird die Fähigkeit sein, beide Ansätze miteinander zu verbinden. Teams, die flexibel auf Spielsituationen reagieren, die Kontrolle und Geschwindigkeit kombinieren können, werden langfristig die besten Karten haben. Ein echter Paradigmenwechsel, also die völlige Abkehr vom Ballbesitzfußball, ist bisher nicht erkennbar. Stattdessen erleben wir eine dynamische Koexistenz verschiedener Stile, die sich je nach Gegner und Spielsituation unterschiedlich entfalten. Die Premier League erfindet sich nicht neu, sie entwickelt sich weiter. Der Eindruck einer Revolution entsteht, weil direkte Aktionen spektakulär wirken und medial stärker auffallen als geduldige Passstaffetten. Doch im Kern ist es eine Evolution, ein Wandel in Nuancen, kein Umsturz. Und vielleicht ist genau das die eigentliche Stärke dieser Liga: Sie vereint extreme Vertikalität mit Ballbesitzdominanz, experimentelle Ansätze mit klassischer Kontrolle – und bleibt damit das spannendste taktische Experimentierfeld des Weltfußballs.
 

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