STADIONSONG

Meine Veddel lieb‘ ich sehr

Im Stadionsong des HSV wird einer der ärmsten Stadtteile Hamburgs alle 14 Tage als Klo geschmäht. Die Bewohner wollen das nicht länger hinnehmen. Von Matthias Greulich

 

 Wollen, dass Abschlach! die Veddel nicht mehr beleidigt: Anne Buthmann und ihr Sohn Christian, der inzwischen wieder im Stadtteil wohnt. Foto: Matthias Greulich 

 

Als Annegret Buthmann an einen Mittwoch im Oktober Kaffee trinkt, liegt ein kleines blaues Feuerzeug neben ihr auf dem Tisch der einzigen Bäckerei auf der Veddel. Es gehört einer Nachbarin. Auf dem Feuerzeug ist eine Raute abgebildet, Symbol und Stammeszeichen des Hamburger SV. Macht ja nichts, sagt die Frau mit rot gefärbten Haaren, Ohrringen und Turnschuhen die alle hier Anne nennen. Sie ist 71, wirkt aber um einige Jahre jünger. „Wenn du das hörst, fällt dir alles aus dem Gesicht“, sagt sie über das Lied, das bei jedem Heimspiel des Hamburger SV von Tausenden beseelt mitgesungen wird. „Mein Hamburg lieb‘ ich sehr“ ist eine Liebeserklärung an einige Stadtteile an der Elbe. Bis auf das Viertel, in dem Buthmann seit 50 Jahren lebt, das sie liebt und dessen Verunglimpfung sie persönlich nimmt.
 
„Die Veddel ist mein Klo“ hat die Rockband Abschlach! getextet. Buthmann zeigt auf ihrem Handydisplay, was die Band auf ihre Forderung geantwortet hat, die Passage mit dem Klo sofort zu ändern. Man habe das schon immer so gesungen, schreiben Abschlach! sinngemäß. Seit 2003 gibt es das Lied, im Mai 2018 wurde es nach dem Abstieg des Bundesliga-Dinos noch im Schockzustand von den Fans gesungen, bei der Aufstiegsfeier war es der Soundtrack für alle, die es mit der Raute halten. In der Nachricht an Anne Buthmann schreiben Abschlach!, dass sie oft auf Touren mit dem Fahrrad das Klärwerk auf der Veddel bewundert hätten. Und ja, auch darin liege doch eine Huldigung, weil dort nun mal das Abwasser der Stadt ankomme. Doch irgendwo müssen Abschlach! auf dem Weg falsch abgebogen sein. Das Hamburger Klärwerk, weithin sichtbar durch die silbernen Faultürme, liegt mit dem Fahrrad mehr als acht Kilometer von dem Bäcker auf der Veddel entfernt. Ein Klärwerk gab es hier nie.
 
„Die wissen gar nicht, wo die Veddel ist“, sagt Anne Buthmann. Abschlach! und der HSV sollte sich die Insel, die südlich an den Elbbrücken liegt, mal ansehen. Gleich neben der Bäckerei zum Beispiel, steht seit 2017 ein goldenes Haus mit vier Stockwerken. Ein Kunstwerk, dessen Vergoldung im Lauf der Jahre verblasst ist. Anfangs kamen Besucher und fragten nach dem Gold-Haus. Jetzt kommt kaum einer mehr, so Buthmann. Einigen der Auswärtigen erschien es obszön, dass in einem armen Stadtteil derart geprotzt wird. Viele Veddeler fragten, ob man die 85.000 Euro für das Blattgold nicht besser für eine Rolltreppe am S-Bahnhof ausgegeben hätte. Als in der Corona-Pandemie der einzige Supermarkt im Stadtteil ausbrannte und monatelang geschlossen war, hatten die 4.500 Veddeler eine Goldfassade aber keine Einkaufsmöglichkeit auf ihrer Insel. Inzwischen hat der Markt wieder geöffnet, aber weniger Lebensmitteln in den Regalen. „Es heißt, es lohnt sich wegen der niedrigen Kaufkraft bei uns nicht mehr“, sagt Buthmann.

Der Sportplatz Slomanstraße, dahinter die Schule auf der Veddel. Foto: Matthias Greulich 

 

Anne Buthmann geht in Richtung Sportplatz, wo sie 30 Jahre lang als Platzwart gearbeitet hat. Das Kunstrasenspielfeld liegt eingebettet zwischen Wohnblöcken aus rotem Klinker und der Schule auf der Veddel, die wie die meisten Gebäude der Insel von Oberbaudirektor Fritz Schumacher entworfen wurde. In ehemaligen Hamburger Arbeiter-Stadtteilen wie Barmbek sieht es ähnlich aus. Barmbek ist heute ein beliebtes Wohnviertel, auf die Veddel will kaum jemand. Als Anne Buthmanns Tochter auf der anderen Elbseite in Altona zur Schule ging, fragten ihre Mitschüler, wie man auf der Veddel wohnen könne. Nach der Schmähung des Stadionsongs hat das Label „Volksparkliebe 1887“ neue T-Shirts und Hoodies auf Instagram angekündigt. „Die Veddel bleibt unser Klo“, samt Abbildung einer Toilettenschüssel neben der Hamburger Stadtsilhouette, zeigt Anne Buthmann auf ihrem Handydisplay. Sie kann darüber nicht lachen. Sollen sich ihre 16 Enkelkinder jetzt als Klobewohner mobben lassen?
 
Buthmann deutet auf das leuchtende weiße Schild am Sportplatzeingang, das Ballspielen auf dem Vorplatz verbietet. „Das war zu meiner Zeit noch nicht da. Wir sind in Deutschland“, sagt die Rentnerin, die hier sieben Kinder großgezogen hat. Als tolerante Platzchefin, die aber auch klare Ansagen machen kann, wird sie von den Fußballern beschrieben. Sie selbst berichtet, dass anfangs nur Männer ihre Kinder zu den Punktspielen begleiteten. „Ich habe Tische mit Keksen rausgestellt und Kaffee verkauft. Nach einiger Zeit kamen auch die Mütter mit zum Fußballplatz.“ Buthmanns sechsjähriger Enkel spielt hier mit Kindern aus unterschiedlichen Nationen beim FC United Veddel. Beim Training trägt er sein HSV-Trikot.
 

Spielten vor über 100 Jahren gegen den HSV: die erste Mannschaft des SC Hermannia 01, hier auf einem Bild von 1916. Foto: Archiv Dieter Thal 

Als die Schule und der Fußballplatz noch nicht gebaut waren, haben die Rothosen die Veddel schon einmal besucht. 1922 siegte der HSV kurz vor Weihnachten im Freundschaftsspiel beim SC Hermannia 01 mit 9:1.  Es herrschte großer Andrang. Das Publikum, zu großen Teilen Hafenarbeiter, wollte die damals beste Mannschaft Deutschlands sehen. Gleich neben dem Hafen gelegen, hatte die Veddel 40 Kneipen und ein Cabaret zu bieten. Das Viertel galt als „Klein St. Pauli“ und war eine Hochburg der SPD. Die Parteifahne, die von mutigen Genossen im Nazi-Deutschland versteckt wurde, bewahrt SPD-Mitglied Anne Buthmann zu Hause auf.
 
Richtung Norden, kurz vor den Elbbrücken, steht die „Veddeler Fischgaststätte“. Seit 1932, wie es auf dem weißen Gebäude auf einem Schild geschrieben steht. Vor der Tür hat sich um kurz nach 12 Uhr eine Warteschlange aus Familien in Funktionskleidung gebildet. Es ist Ferienzeit und viele Touristen kommen hierher, seit die Fischgaststätte in Reiseführern als Geheimtipp gelistet wird. Wie auf einer eigenen Insel liegt das Lokal neben der von Tausenden Lastwagen täglich befahrenen Haupthafenrote. Schon lange will es die Hafenbehörde woanders ansiedeln. Doch dann müsste der Fischofen von 1947 stillgelegt werden.  Unterstützer sammelten 20.000 Unterschriften gegen die Pläne, sie schafften es, das letzte Gebäude des einstigen Amüsierviertels zu retten. Wegen des großen Andrangs haben die Betreiber im Garten hinter dem Haus zusätzliche Stühle und Tische aufgestellt. Vor der Bestellung warnt Buthmann, dass die Mahlzeiten für den Appetit von Hafenarbeitern bemessen sind. Die große Portion schaffe sie in zwei Tagen. An den Tisch schräg hinter ihr setzen sich zwei Ausflügler. Der Vater im grauen Sweatshirt mit Raute, sein Sohn im Trikot des HSV. Sollen wir die beiden nach ihrer Meinung zum Stadionsong fragen? Lassen wir sie doch in Ruhe, sagt Anne Buthmann.

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