TORHÜTER
Der Kampf der letzten Männer
Die Entscheidung ist gefallen: Jens Lehmann steht bei der WM im deutschen Tor. Passt er wirklich am besten in das Spielsystem von Jürgen Klinsmann? Von Malte Oberschelp

Jens Lehmann
Spitzname Mad Jens: Nummer
eins Lehmann Foto Heiko Prigge

 


Eine schwierige Entscheidung. Die WM in Deutschland steht vor der Tür und das ganze Land rätselt, wer im Tor der Nationalmannschaft stehen wird. Die große Mehrheit ist für den langjährigen Stammkeeper, dessen große Taten der Vergangenheit allen noch im Gedächtnis sind. Sein Konkurrent besitzt weit weniger Fürsprecher, aber auch er bekommt seine Spiele. Je näher das Turnier rückt, desto mehr nimmt die Nominierung Züge einer Staatsaffäre an. Doch am Ende entscheidet sich der Trainer für keinen der Kandidaten: Bei der WM 1974 stellte Rinus Michels einen Keeper ins Tor, dessen einziges Länderspiel 12 Jahre zurücklag – Jan Jongbloed.

Was das mit der deutschen Torhüterdiskussion zu tun hat? Zum Beispiel, dass es nicht unüblich ist, die Nummer eins direkt vor dem Turnier zu küren. Oder auch, dass die deutsche Debatte an der Wahrheit auf dem Platz vorbeifliegt wie ein schlechter Keeper an einer guten Flanke. Denn die Deutschen diskutieren über ihre letzten Männer, als müssten sie die WM im Alleingang gewinnen, als wäre Fußball kein Mannschaftssport. Alle reden von Kahn oder Lehmann. Aber keiner fragt, welcher Torwart am besten in das System passt, das Jürgen Klinsmann spielen lassen will.

1974 bescherte Rinus Michels der Welt den totalen Fußball. Die Abwehr spielte auf einer Linie und rückte geschlossen vor, wann immer die Spielsituation es erlaubte, um die gegnerischen Stürmer abseits zu stellen und die Räume eng zu machen. Genau wie Klinsmann es vorschwebt – auch wenn das beim 1:4 gegen Italien glorreich danebenging. Für dieses System wollte Michels einen Torhüter, der Fußball spielen konnte und nicht vor der Welt außerhalb des Strafraums zurückschreckte. Nur hatten die etatmäßigen Keeper Jan van Beveren und Piet Schrijvers ihre Stärken auf der Linie. Genau wie Oliver Kahn. Und, mit Abstrichen, Jens Lehmann.

„Michels hat damals unglaublich viel Kritik einstecken müssen“, sagt der holländische Torwarttrainer Frans Hoek. „Aber am Ende hat er Recht gehabt, weil Jongbloed im gesamten Raum zwischen Tor und Abwehr verteidigt hat.“ Hoek ist Fachmann für das Zusammenspiel von Torhüter und Taktik. 1985 holte ihn Johan Cruyff, der Jongbloeds Nominierung als Spieler entscheidend unterstützt hatte, zu seiner ersten Trainerstation Ajax Amsterdam. Hoek erstellte ein Profil, was für einen Keeper Cruyff wollte, und stellte dementsprechend das Training um. Eines der Ergebnisse ist Edwin van der Sar. „Der könnte bei fast jedem Bundesligisten Libero spielen“, staunte einst Trainer Klaus Toppmöller nach einem Uefa-Cupspiel.

Fragt man ihn danach, hat auch Frans Hoek im Streit um die deutsche Nummer eins eine Meinung. „Wenn Klinsmann die Abwehr nach vorne rücken lassen will, dann braucht er einen anderen Torhüter als Oliver Kahn“, sagt er. „Mit der Abwehr nahe am Tor ist er einer der besten der Welt, aber wenn die Viererkette die Räume eng macht, ist das nicht seine Stärke.“ Kahn war 23, als 1992 die Rückpassregel eingeführt wurde. Sein Spiel hat er danach nicht mehr grundsätzlich verändert. Selbst wenn er nach einem Rückpass einen zurückgeeilten Außenverteidiger anspielen könnte, drischt er den Ball meist blindlings nach vorne. Dann entscheidet der Zufall, wer in Ballbesitz bleibt.

„Reaktionstorhüter“ nennt Hoek diese Art Keeper: exzellent auf der Linie, willensstark, physisch beeindruckend, aber fußballerisch limitiert und mit durchschnittlichem Stellungsspiel bei Steilpässen in den Rücken der Abwehr. Das Gegenstück nennt er Antizipationskeeper, Prototyp van der Sar. Das Begriffspaar entwickelte Hoek, als er mit Louis van Gaal nach Barcelona ging und sich wunderte, warum anerkannte Torleute wie Vítor Baía und Robert Enke nicht mit der Spielweise der Mannschaft klar kamen. Daraus gelernt hat er, dass jeder Trainer die Konsequenzen kennen muss, die ein Torhüter für das Spielsystem hat. „Das System von Bayern braucht einen anderen Torwart als das System von Ajax und Barcelona – oder das der deutschen Nationalmannschaft.“

Aber welcher Torhüter passt ins System Klinsmann? In Deutschland gilt Jens Lehmann als fußballerisch passabel, häufiger als Kahn wandelt er Rückpässe in Spieleröffnung um. Seit 2003 läuft er bei Arsenal London nahezu genau so wie in der Nationalelf auf. Taktisch ist er individuell vielleicht schon weiter als die Mannschaft als Kollektiv. Doch auch Kahns Herausforderer erlebte entscheidende Ausbildungsjahre in den Jahren vor der Rückpassregel. Bei den Arsenal-Fans hat Lehmann wegen teils bizarrer Ausflüge aus dem Strafraum den Spitznamen Mad Jens weg. Seinen folgenschwersten Fehler, der gegen Chelsea 2004 zum Ausscheiden in der Champions League führte, beging Lehmann bei einem Rückpass.

„Er antizipiert etwas besser als Kahn, aber viel weniger als zum Beispiel van der Sar“, urteilt Frans Hoek. „Kahn ist zu 100 Prozent Reaktionstorhüter, Lehmann zu 80 Prozent.“ Der seinerzeit erste holländische Torwarttrainer überhaupt hält Timo Hildebrand für die beste Lösung im WM-Tor. „Er kann beides, deshalb hat er im Spiel viele Möglichkeiten.“ Die idealtypische Beschreibung eines Antizipationstorhüters, die Hoek im Magazin „Soccer Coaching International“ gegeben hat, trifft exakt auf Hildebrand zu: weniger muskulös, weniger lautstark, aber geduldig in Eins-gegen-Eins-Situationen und mit sehr guten Fähigkeiten, das Spiel im Raum zu lesen.

Wahrscheinlich ist Hildebrands Nominierung als Nummer eins nicht. Zwar hat Klinsmann im Fall Wörns bewiesen, dass seine neue Art Fußball zu spielen nicht vor alten Namen Halt macht. So gesehen wäre es konsequent, zumindest Lehmann ins Tor zu stellen. Doch die Deutschen pflegen ein besonderes Verhältnis zu ihren Nationaltorhütern, das Thema ist emotional aufgeladen. Viele Fans sowie das Gros der Medien empfanden es als Majestätsbeleidigung, Kahn überhaupt einem offenen Wettbewerb auszusetzen. Klinsmann muss mit einem öffentlichen Sturm der Entrüstung rechnen, gegen den die Solidaritätsadressen an Christian Wörns nicht der Rede wert sind, sollte er sich gegen Kahn entscheiden.

Wobei es für den tragischen Helden der WM 2002 durchaus Argumente gibt, denn natürlich hängt die Wahl des Torhüters nicht nur vom System ab: Er muss erfahren sein. Die Abwehrspieler müssen das Gefühl haben, einen Fehler machen zu können. Und die Gegner müssen Respekt haben. Mit „einem Block Zement mit großem Charisma“ vergleicht Frans Hoek den typischen Reaktionstorhüter. Vielleicht ist das der Grund, warum in einer Umfrage des „Kicker“ die Mehrheit der Bundesligaprofis bei der WM Oliver Kahn im Tor sehen will– aber die gleiche Mehrheit Robert Enke für den besten Keeper hält. „Robert ist ein hervorragender Torwart, aber auch mehr der Typ Reaktion“, sagt Hoek über seinen ehemaligen Spieler. „Das Problem bei Barcelona war: Wenn du 25 bist, ist es schwer, noch die Antizipation zu lernen – obwohl er da bereits besser ist als Kahn und Lehmann.“

Vermutlich hätte Sepp Maier bei Gerd Müllers 2:1 im Endspiel 1974 besser reagiert als Jan Jongbloed, der einfach nur stehen blieb. Oliver Kahn hätte den Ball vielleicht gehalten, dafür aber bei einigen Szenen in der zweiten Halbzeit alt ausgesehen. „Kopfballabwehr eines Torhüters in einem WM-Finale“, staunte da TV-Kommentator Rudi Michel. Später ernannte er Jongbloed zum „Weltmeister im Herauslaufen“.

Die Deutschen halten es eher mit den Helden auf der Linie. Die holländische Spielauffassung nivelliert die Unterschiede zwischen Torhüter und Feldspieler, die deutsche überhöht die Nummer eins zum Turm in der Schlacht – von Toni Turek Fußballgott bis King Kahn. Ein Radi Radenkovic taugte in der Bundesliga nur zur Witzfigur, nicht zum Gegenentwurf. Jürgen Klinsmann wäre der Mann, mit dieser Tradition zu brechen. Fragt sich nur, ob er sich das leisten kann – und will.



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