TAKTIKREPORT VIERERKETTE
An die Kette gelegt
Die Viererkette ist Gesetz. Weltweit. Und seit ein paar Jahren sogar bundesweit. Aber wie kam es eigentlich dazu, dass sie sich gegenüber der Dreierabwehr durchsetzte? Der Libero ist schuld. Wie eigentlich an fast allem. Von Ronald Reng


Metzelder
Lange ein Teil der Viererkette in der
Nationalelf: Christoph Metzelder Foto Hochzwei


Drei Finger ragten in die nasse Londoner Herbstnacht. Unter ihnen stand ein Fragezeichen im Gesicht von Gianluca Zambrotta. Wie bitte, fragten Finger und Augen des italienischen Weltmeisters, mit drei Innenverteidigern sollen wir jetzt spielen? Am Spielfeldrand nickte Frank Rijkaard, Zambrottas Trainer beim FC Barcelona. Aber Zambrottas Erstaunen blieb, blieb bis heute, ein halbes Jahr, nachdem Rijkaard im Champions-League-Vorrundenspiel beim FC Chelsea seine Elf ab der 56. Minute mit nur noch drei statt den gewohnten vier Verteidigern gegen den Rückstand anrennen ließ. „Ich war so überrascht, weil wir das 3 4 3-System nie geübt hatten“, sagt Zambrotta, „und weil heute mit drei Verteidigern doch kaum noch gespielt wird.“ Tatsächlich blieben die 34 Minuten bei der 0:1-Niederlage bei Chelsea die einzigen in den vier Jahren unter Rijkaards Leitung, in denen sein auch taktisch Maßstäbe setzendes Bar√ßa mit drei Verteidigern agierte.

Es ist nur ein paar Jahre her, da hätte sich kein Finger gereckt, wenn eine Elf mit drei Verteidigern spielte. Es wogte der dogmatische Kampf der Systeme im Fußball, die im Grunde aber eine friedliche Koexistenz führten: die Raumdeckung in einer Abwehrkette auf einer Linie und die Manndeckung mit Libero. Beide Systeme wurden mal mit vier, mal mit drei Verteidigern interpretiert, wenngleich die Tendenz beim Liberosystem ab 1980 eindeutig zur Dreierabwehr ging. Doch so wie plötzlich der Kommunismus unterging und der Kapitalismus siegte, verschwand seit Ende der 90er-Jahre das Spiel mit drei Innenverteidigern. Griechenland bei seinem EM-Triumph 2004 war die eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, ansonsten findet sich heute weder in der Bundesliga noch in den Premiumligen Englands und Spaniens eine dreiköpfige Abwehr. Man muss schon tief wühlen, um im Spitzenfußball noch eine zu finden: bei Reggina und dem AC Turin. Abstiegskandidaten in Italiens Serie A.

Der weltweite Siegeszug der Viererkette ist das auffälligste taktische Merkmal des globalisierten Fußballs. Der Libero starb dabei aus, zu erschlagend waren die Vorteile der Raum- gegenüber der Manndeckung. Warum aber ist auch der kleine Bruder der Viererkette, die Dreierkette, bestenfalls noch in Ausnahmesituationen gefragt?

„Von einer Abwehrlinie mit vier Spielern ausgehend, lässt sich der gesamte Raum des Spielfelds am besten abdecken“, sagt Marcel Koller, Trainer des VfL Bochum, der als einer der fähigsten Taktiker der Bundesliga gilt. Der Fußballplatz ist rund 70 Meter breit. Vier Abwehrspieler, die im Abstand von gut zehn Meter zueinander auf einer Linie positioniert sind, bilden somit immer einen 50 Meter breiten Schutzwall. Da sich die Viererkette flexibel seitlich verschiebt, fallen die ungedeckten 20 Meter nicht ins Gewicht. Ein Beispiel: Der Gegner greift über den rechten Flügel an, die Viererkette lässt die äußersten 20 Meter der linken Seite ungedeckt. In der Zeit, die der Gegner benötigt, den Ball eventuell nach links außen zu spielen, könnte sich die Viererkette auch dorthin verschieben. Eine Dreierkette dagegen kann immer nur 40 Meter abdecken, fast das halbe Spielfeld wäre also frei. Das ist Einladung für den Gegner. Das heißt, die Dreierkette braucht in der Defensive immer die Unterstützung der zwei Außenspieler aus dem Mittelfeld, die diese Löcher stopfen.

„Die Spieler, die von einer Umstellung auf eine Dreierkette am meisten betroffen sind, sind deshalb nicht die Verteidiger, sondern die Außen des Mittelfelds“, sagt Koller, „sie müssen extreme Wege gehen.“ Während im Spiel mit Viererkette die Positionen recht starr eingehalten werden und für die Spieler ihre Aufgabe deshalb überschaubar bleibt, ist das System mit Dreierkette auf Flexibilität angewiesen: In Defensivsituationen müssen fünf Spieler in der Abwehrreihe sein, beim eigenen Angriff müssen aber sofort wieder fünf Mann im Mittelfeld stehen. „Das funktioniert nur mit sehr schnellen und sehr gedankenschnellen Spielern“, sagt Koller und denkt nicht nur an die zwei rotierenden Außenspieler: Auch die drei Innenverteidiger müssen überdurchschnittlich schnell sein, für den Fall, dass einer der Außen zu langsam ist oder gar beide nicht schnell genug zurückkommen. „Das verlangt eine höhere Aufmerksamkeit“, denn solche unvorhergesehen Situationen treten bei einer Dreierkette viel häufiger ein als bei einer Viererkette: Wenn zwei Spieler permanent zwischen Abwehr und Mittelfeld pendeln, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihnen öfters einmal der Wechsel nicht rechtzeitig gelingt. Das macht die Dreierkette schwieriger. Riskanter.

So ist sie zur Erste-Hilfe-Maßnahme in Extremsituationen verkommen. Sie wird zum einen – wie erfolglos von Bar√ßa in Chelsea – für ein ultraoffensives Spiel bei Rückstand in der Schlussphase eines Spiels benutzt, mit dem schlichten Ziel, einen zusätzlichen Spieler für die Offensive freizusetzen. Oder sie wird – wie in Reggina und Turin - als falsche Dreierkette für ein betont defensives Spiel eingesetzt. Denn eigentlich ist sie in solchen Fällen eine Fünferkette: Die beiden Außenspieler, die zwischen Mittelfeld und Abwehr pendeln sollten, bleiben faktisch fast die ganze Zeit als Außenverteidiger auf einer Höhe mit der Innenverteidigung. Hans Meyer war in seiner Anfangszeit beim 1. FC Nürnberg vergangene Saison der letzte Trainer in der Bundesliga, der das versuchte. Auch Marcel Koller hoffte, mit ihr in seiner Zeit beim 1. FC Köln den Abstieg zu verhindern. „Das macht man, wenn – wie bei mir damals in Köln – die Qualität der Verteidiger nicht gut genug ist“, sagt Koller. Weil das Schwergewicht des Teams mit fünf Mann dann weit in der eigenen Hälfte liegt, verdonnert es die Mannschaft zum Konterspiel.

Dass die Dreierkette in Deutschland länger eine stärkere Rolle als anderswo spielte, liegt an ihrer – fälschlich angenommenen – Verwandtschaft mit dem hierzulande so geliebten Liberosystem. Beide Systeme unterscheiden sich durch Raum- beziehungsweise Manndeckung grundsätzlich, aber weil sie beide auf eine Abwehr mit drei Mann fußen, war die Dreierkette in Deutschland eine gern gewählte Zwischenlösung in den Übergangsjahren weg vom Libero. So hielt Jupp Heynckes, der als einer der ersten in Deutschland 1994 bei Eintracht Frankfurt die Dreierkette einführte, eigentlich die Viererkette für geeigneter. Doch die schien damals in Deutschland nicht durchsetzbar. Spieler und Publikum hingen religiös am Libero.

Also dachte Heynckes, wenn er in Frankfurt nur den Libero Manfred Binz ein wenig nach vorne verschiebe, auf eine Linie mit den zwei Vorstoppern und von Mann- auf Raumdeckung umschalte, sei das schon ein enormer Fortschritt. Dann verlor die Eintracht zu Hause 0:3 gegen Uerdingen. Kapitän Anthony Yeboah erklärte, die Mannschaft verstehe nicht, was der Trainer da Komisches in der Abwehr mache. Heynckes antwortete, man wisse doch, dass Yeboah Artikulationsschwierigkeiten habe. Yeboah wurde verkauft, Heynckes trat zurück, die Eintracht spielte wieder mit Libero und stieg ein Jahr später erstmals in ihrer Geschichte ab. Es war die Zeit, als selbst denkende Fußballer wie Thomas Strunz von Bayern München ernsthaft erklärten, dass es doch egal sei, ob ihr Trainer Giovanni Trapattoni die Viererkette probe: „Libero oder Viererkette, im Spiel verschiebt sich das und ist so oder so dasselbe.“

Das ist nur ein paar Jahre her. Und doch eine Ewigkeit. Heute finden die taktischen Glaubenskriege nur noch in der Offensive statt: mit drei Stürmern oder zwei zentralen defensiven Mittelfeldspielern, das sind die Fragen. Die Basis aber ist für die ganze Fußballwelt die Viererkette. Nur manchmal, in Ausnahmesituationen, glaubt sogar ein ausgewiesener Taktiker wie Marcel Koller doch an die Kraft der Dreierkette. Bochum lag im Herbst 2006 gegen Werder Bremen nach einer Stunde 0:2 zurück, im Training hatten sie es nie geübt, „aber ich dachte, komm, versuch es einmal mit der Dreierabwehr“. Er nahm Rechtsverteidiger David Pallas heraus, um mit Ivo Ilicevic einen zusätzlichen Offensivspieler zu bringen. „Danach ging es: tak, tak, tak“, sagt Koller. Bochum verlor mit 0:6.


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