Taktik
Wer das Tempo lenkt, lenkt das Spiel
Tempo ist im modernen Fußball kein Wert an sich: Trainer wie Pep Guardiola oder Xabi Alonso inszenieren den Spielaufbau inzwischen wie ein Musikstück mit klarer Dramaturgie: mal fließend, mal stockend, dann explosiv. Eine Analyse von Marius Thomas
Die Welle reiten: Als Pep Guardiola noch die Bayern coachte Foto Pixathlon
Es gab eine Zeit, da schien der Fußball nur noch eine Richtung zu kennen: schneller, aggressiver, intensiver. Pressing war nicht nur Taktik, sondern Attitüde. Teams wie der FC Liverpool, RB Leipzig oder Atalanta Bergamo überrannten ihre Gegner – mit permanentem Vorwärtsdrang, mit maximalem Risiko, mit dem Mut zur offenen Schlacht. Die Botschaft war klar: Wer steht, verliert. Wer zögert, geht unter. Doch inzwischen hat sich die Szene verändert. Die großen Spiele fühlen sich anders an. Das Tempo ist nicht geringer – aber es ist besser dosiert. Pausen im Spielfluss, kontrollierte Phasen, scheinbare Inaktivität – und dann plötzlich: ein beschleunigter Angriff, ein tödlicher Pass, ein Raum, der sich öffnet. Es ist, als hätte der Fußball das Atmen wiederentdeckt. Die neue Kunst besteht nicht darin, immer schnell zu spielen – sondern zu wissen, wann nicht. Trainer wie Pep Guardiola oder Xabi Alonso inszenieren den Spielaufbau inzwischen wie ein Musikstück mit klarer Dramaturgie: mal fließend, mal stockend, dann explosiv. Das Ziel: Kontrolle durch Rhythmus. In einer Ära, die vom High-Pressing-Hype geprägt wurde, entsteht nun eine neue Idee von Dominanz: nicht über Geschwindigkeit an sich, sondern über das bewusste Wechselspiel von Beschleunigung und Beruhigung. Ein Wechsel der Perspektive – und vielleicht der Schlüssel zur nächsten Evolutionsstufe im Spiel mit dem Ball.
Die Pressingwelle: Wie das hohe Tempo das Spiel veränderte
Mit dem Aufstieg von Trainern wie Jürgen Klopp, Ralf Rangnick oder Julian Nagelsmann wurde das Spiel gegen den Ball zur dominanten Idee. „Gegenpressing ist der beste Spielmacher“, formulierte Klopp einst – und sprach damit nicht nur für sich, sondern für eine ganze Generation von Taktikern, die das Spiel nicht mehr kontrollieren wollten – sondern es überrollen. Das bedeutete: frühe Balleroberung, kurze Wege zum Tor, maximale Beschleunigung nach Ballgewinn. Pressing als Eröffnung – nicht nur als Verteidigungsmaßnahme. Je höher, je schneller, desto besser. Auch der Spielaufbau passte sich an: keine langen Ruhephasen mehr, sondern vertikaler Zwang, ständiger Zug zum vorderen Drittel. Doch mit dem Tempo kam auch der Kontrollverlust. Wer ständig auf Anschlag spielt, lebt gefährlich: Ballverluste im Aufbau wurden zur Konterfalle, technische Fehler häuften sich, der Rhythmus wurde hektisch. In vielen Spielen prallten zwei Pressingmaschinen aufeinander – mit viel Chaos, wenig Struktur und einem hohen physischen Verschleiß. Das Hochtempo wurde zum Selbstzweck. Wer nicht mitging, wirkte altmodisch. Doch irgendwann kippte die Erzählung: Teams suchten nach Möglichkeiten, das Tempo zu kontrollieren, ohne an Dominanz zu verlieren. Aus dem reinen Pressing wurde ein gezieltes Pressing. Aus konstantem Angriff ein taktisches Warten. Ein neuer Umgang mit Rhythmus war gefragt.
Kontrolliertes Chaos vs. Geordnete Kontrolle
Der moderne Fußball bewegt sich heute zwischen zwei gegensätzlichen Prinzipien: dem „kontrollierten Chaos“ und der „geordneten Kontrolle“. Beide haben ihren Reiz, beide ihren Erfolg – und doch steht die Frage im Raum, welcher Weg zukunftsfähiger ist. Das kontrollierte Chaos ist geprägt vom Glauben an Dynamik, Intensität und Momente. Mannschaften wie Jürgen Klopps Liverpool oder Gasperinis Atalanta setzten auf Überfallfußball, bei dem strukturierte Abläufe nur die Bühne für spontane Explosivität bieten. Der Spielaufbau dient dabei meist als kurzer Zünder – ein, zwei vertikale Pässe, dann soll es brennen. Risiko ist Teil des Plans, Fehler werden akzeptiert, wenn sie das Spiel offen halten. Dem gegenüber steht die geordnete Kontrolle – verkörpert etwa durch Pep Guardiola oder Xabi Alonso. Hier ist der Spielaufbau keine Durchgangsstation, sondern ein taktisches Werkzeug zur Raumöffnung. Durch gezielte Ruhephasen, sichere Pässe, asymmetrische Staffelungen und Spielverlagerungen wird der Gegner in Bewegung gebracht, ohne dass sofort attackiert wird. Es geht nicht um Geschwindigkeit an sich, sondern um das richtige Timing. Beide Ansätze können erfolgreich sein. Doch in den letzten Jahren beobachten wir eine Verlagerung des Schwerpunkts: Immer mehr Teams setzen auf Tempomodulation statt Dauerdruck. Auch pressingintensive Teams wie Arsenal oder Bayern (unter Thomas Tuchel) integrierten bewusst Spielphasen, in denen sie das Tempo herausnahmen – um sich zu ordnen, die Passwinkel zu verbessern oder Gegenspieler aus der Position zu ziehen. Es ist kein Gegensatz mehr. Das Chaos darf sein – aber nur dann, wenn es vorbereitet wurde. Die neue Elite im Fußball ist nicht die, die am schnellsten spielt – sondern die, die das Tempo steuern kann.
Die Kunst der Ruhe: Tempo-Staffelung im Aufbau
Tempo im Spielaufbau bedeutet heute nicht mehr „schnell um jeden Preis“, sondern: gezielte Staffelung von Geschwindigkeit. Die besten Teams pressen nicht nur clever – sie spielen auch clever, wenn sie selbst im Aufbau sind. Das neue Ziel: Situationen schaffen, in denen Geschwindigkeit Sinn ergibt – nicht sie permanent erzwingen. Ein zentrales Element dabei ist die Staffelung von Tempo in der horizontalen und vertikalen Bewegung. Das bedeutet: Nicht jeder Ball muss sofort in die Tiefe. Stattdessen wird der Gegner durch ruhige Zirkulation aus der Ordnung gezogen. Verteidiger bleiben breit, die Sechser bieten sich in verschiedenen Höhen an, Außenverteidiger rotieren ins Zentrum – das Spiel bleibt ruhig, aber in Bewegung. Wird der Gegner ungeduldig und rückt aus, schlägt die Dynamik zu: ein schneller Pass durch die Linie, ein Dribbling, ein Lauf in die Tiefe. Die Beschleunigung wird geplant – nicht erzwungen. Guardiola nennt das „die Ruhe vor dem Sturm“. Alonso nutzt es, um Wirtz) in Position zu bringen. Beide wissen: Wer das Tempo staffeln kann, verfügt über Kontrolle, ohne sich dem Balltempo unterzuordnen. Auch mental ist das entscheidend: In hektischen Spielen erzeugen Ruhephasen Klarheit. Spieler erkennen Räume besser, treffen sauberere Entscheidungen. Ein kluger Spielaufbau bremst nicht – er bereitet Beschleunigung vor. Tempo-Staffelung ist damit kein Zeichen von Passivität, sondern von Reife. Wer das Spiel verlangsamen kann, ohne es zu verlieren, hat die höchste Form der Kontrolle erreicht.
Die Wirkung: Warum gezielte Ruhe Gegentore verhindert
Schnelles Spiel erzeugt Chancen – aber auch Risiko. Viele der Gegentore in der modernen Ära entstehen nicht aus tiefem Verteidigen, sondern aus eigenen Ballverlusten im Aufbau. Besonders gefährlich: Vertikale Pässe unter Druck, riskante Verlagerungen oder überhastete Entscheidungen, wenn das Spiel permanent unter Hochspannung steht. Genau hier entfalten Ruhephasen im Aufbau ihre defensive Qualität. Wer das Tempo dosiert, minimiert nicht nur technische Fehler, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für Konter. Denn langsame Phasen bieten Zeit zur Raumkontrolle, zur Nachrückbewegung der Verteidigung, zur Positionssicherung im Gegenpressing. Datenanalysen großer Vereine zeigen: Die Zahl der „high-risk turnovers“ – also Ballverluste in gefährlichen Räumen – sinkt signifikant, wenn gezielt in Ruhephasen gespielt wird. Statt wildem Forcieren steht dann die Spielstruktur im Vordergrund. Teams wie Manchester City oder Bayer Leverkusen kassieren deshalb trotz offensivem Ansatz relativ wenige Kontertore: Sie entscheiden, wann sie angreifen – nicht der Gegner. Tempo ist also nicht nur ein Werkzeug zur Chance, sondern auch zur Schadensvermeidung. Wer Ruhe beherrscht, verteidigt mit dem Ball. Und wer mit dem Ball verteidigt, ist nicht auf Zufall angewiesen.
Training & Umsetzung: Kann man Rhythmuswechsel trainieren?
Tempo im Spiel zu variieren klingt zunächst nach Intuition – nach Erfahrung, Fingerspitzengefühl, Spielintelligenz. Doch moderne Trainer überlassen diesen Aspekt längst nicht mehr dem Zufall. Rhythmuskontrolle ist heute ein trainierbares Element, eingebettet in strukturierte Abläufe, klare Prinzipien und gezielte Spielsituationen. Im Nachwuchsbereich beginnen Akademien damit, Spielphasen bewusst zu kennzeichnen: Wann muss das Spiel beruhigt werden? Wann soll ein Angriff vorbereitet, nicht sofort abgeschlossen werden? In Spielformen werden Zeitfenster oder Ballkontakte begrenzt – aber nicht dauerhaft, sondern im Wechsel. So entsteht ein Bewusstsein für das Umschalten nicht nur nach Ballverlust – sondern auch zwischen Tempostufen im Ballbesitz. Im Profibereich arbeiten Trainer mit „Ballzirkulationsfenstern“ – also gezielten Sequenzen, in denen das Team bewusst flach hält, um danach über Triggerpunkte (beispielsweise Gegneröffnung, Seitenwechsel, Läufe in die Tiefe) in höhere Geschwindigkeit zu schalten. Auch Coaching-Zonen auf dem Platz helfen: Spieler wissen, in welchem Drittel des Feldes Beschleunigung sinnvoll ist – und wo nicht. Entscheidend bleibt aber: Spieler müssen lernen, das Spiel zu lesen. Deshalb sind erfahrene Führungsspieler wie Ilkay Gündoğan, Toni Kroos oder Joshua Kimmich so wichtig – sie sind die Taktgeber, die das Spiel entschleunigen, wenn alle anderen beschleunigen wollen. Am Ende geht es im Training also nicht um Geschwindigkeit an sich, sondern um die Frage: Wer kontrolliert sie – das Spiel oder der Spieler?
Fazit: Wer das Tempo lenkt, lenkt das Spiel
Der Fußball hat in den letzten Jahren eine seiner wichtigsten Erkenntnisse reifen lassen: Tempo ist kein Wert an sich – sondern ein Werkzeug. Wer immer nur schnell spielt, läuft Gefahr, sich selbst zu entgleiten. Wer das Tempo steuert, bestimmt die Bedingungen, unter denen das Spiel stattfindet. Die Highpress-Ära hat den Fußball revolutioniert – sie hat ihn intensiver, spektakulärer, aber auch instabiler gemacht. Was wir nun beobachten, ist kein Rückschritt, sondern eine Weiterentwicklung: Top-Teams wie Manchester City, Bayer Leverkusen oder auch die spanische Nationalmannschaft spielen nicht langsamer – sie spielen gezielter. Gezielte Ruhephasen im Spielaufbau, das bewusste Variieren von Rhythmus, die kluge Verzögerung vor der Beschleunigung – all das ist Ausdruck einer neuen taktischen Reife. Die Idee ist nicht, weniger Risiko zu gehen, sondern das Risiko zu kontrollieren. Tempo wird nicht pauschal erzeugt, sondern situativ aktiviert. Und genau darin liegt die neue Kunst. Die Zukunft des Spielaufbaus gehört nicht nur den schnellsten Teams – sondern denen, die erkennen, wann Tempo tödlich ist und wann es tödlich wäre. Der Unterschied zwischen Geschwindigkeit und Kontrolle entscheidet heute Spiele auf allerhöchstem Niveau. Denn letztlich gilt: Wer das Tempo lenkt, lenkt das Spiel.
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