INTERVIEW

Micoud: „Mich fasziniert die Freiheit des Geistes“

Vor 20 Jahren gewann er mit Werder das Double: Johan Micoud sprach mit RUND in der im Oktober 2004 erschienenen Nullnummer über das Leben am Strand der Cote d’Azur und die quälende Nervosität vor dem Anpfiff. Interview Matthias Greulich und Christoph Ruf

 

Johan Micoud
„Le Pen macht mir Angst“: Johan
Micoud verabscheut Extremisten Foto: Axl Jansen


RUND: Monsieur Micoud, vor einer Weile haben Sie gesagt, dass das Umfeld in einer Mannschaft für Sie sehr wichtig sei. Wie ist es damit in dieser Saison bei Werder bestellt?
Johan Micoud: Es ist in Ordnung. Jeder lebt ein wenig sein eigenes Leben, aber wenn wir alle zusammen sind, versuchen wir uns zu verstehen.
 
RUND: Kann man stabile Freundschaften aufbauen, wenn man immer wieder den Verein und das Land wechselt, wie es bei vielen Profis der Fall ist?
Johan Micoud: Dadurch, dass man zusammen arbeitet, kann man gute Kumpel werden. Engere Freundschaften gibt es im Fußball nicht viele. In dieser Saison haben wir zwei Spieler verloren, die genauso wichtig auf als auch neben dem Spielfeld waren fußballerisch und menschlich gleich wichtig waren. Das ist etwas kaputtgegangen.
 
RUND: Ein stabiler Faktor in Ihrem Leben ist die Familie, die Sie nach Italien und Deutschland begleitet hat. Ihre ältere Tochter, die in Parma schnell Italienisch gelernt hat, scheint sich ja problemlos an das Leben im Ausland gewöhnt zu haben, was macht Ihr Deutsch?
Johan Micoud: Die Kinder lernen in einer Schnelligkeit, die beeindruckend ist. Wir waren zwei Jahre in Italien, wo sie auf eine italienische Schule gingen. Nach vier harten Monaten haben sie uns korrigiert, was die Aussprache anbelangt. Die Kleine, die fünf Jahre alt ist, geht auf eine französisch-deutsche Grundschule hier in Bremen und lernt Deutsch. Die Ältere haben wir in eine internationale Schule geschickt. Sie hat sich auf Englisch gestürzt und beginnt Fortschritte auf Deutsch zu machen - auch weil sie einige deutsche Freundinnen hat. Mit acht Jahren mehrere Sprachen zu sprechen ist genial.
 
RUND: Was ist mit Ihnen?
Johan Micoud: Am Anfang habe ich es versucht. Aber ihr habt hier ein großes Problem: jeder spricht Englisch. Außerdem ist die Sprache schwierig. Ich gebe lieber Interviews auf Englisch und Französisch. Und ansonsten versuche ich mich mit einigen Worten Deutsch durchzuschlagen, aber ich schaffe es nicht, auf Deutsch das auszudrücken, was ich sagen will.
 
RUND: Fühlen Sie sich mit diesen Deutsch-Kenntnissen nicht etwas alleine in Bremen? Es gibt nicht viele Franzosen an der Weser.
Johan Micoud: Es gibt ein Institut Français und man trifft einige Franzosen. Es geht mir gut, ich bin auch nicht so stark auf Gemeinschaft aus.
 
RUND: Ihre Frau ist Künstlerin, was macht Sie genau?
Johan Micoud: Ich treibe sie ein wenig an. Sie hat Kunstgeschichte studiert, aber mit dem Studium aufgehört. Sie hat ein Talent für die Malerei, für alles Kreative. Aber für die Inspiration braucht man Ruhe und glücklicherweise werden die Kinder größer und sie hat wieder begonnen. Und ich treibe meine Freunde an, sie mit den Vorschlägen für Bilder anzutreiben.
 
RUND: Sie haben in Ihrer Jugend in einer Strandbar gearbeitet.
Johan Micoud: Um etwas Geld zu verdienen, habe ich meinem Vater geholfen, der Eigentümer eines Bistrots während der zwei Monate der Sommerferien war. Ich habe bedient, den Bretterboden gesäubert. Es war hart, aber auch nett mit der Sonne, dem Meer. Allerdings geben die Franzosen wenig Trinkgeld, erst seit dem Euro geben sie fast das Doppelte.
 
RUND: Auch wenn die Franzosen nicht so großzügig sind, scheint es in Frankreich weniger streng zuzugehen als in Deutschland.
Johan Micoud: In Deutschland kenne ich nur Bremen und man hat mir gesagt, dass es im Süden lockerer zugehe. Hier besteht man zu sehr auf die Einhaltung der Regeln. Ich komme aus Cannes und bin etwas romanischer und dadurch wahrscheinlich etwas entspannter. Aber man passt sich an.
 
RUND: Woran mussten Sie sich besonders gewöhnen?
Johan Micoud: Ob im Auto, in der Nachbarschaft. Überall gibt es Gesetze und wenn du dich nich nicht sofort daran hältst, weist man dich darauf hin. In bestimmten Straßen darfst du beispielsweise nicht wenden. Ich habe den Eindruck, dass man hier kein Recht auf Fehler hat. Man greift dich sofort an.
 
RUND: Ist es wahr, dass Sie Gitarre spielen?
Johan Micoud: Nein, und das bedaure ich sehr. Seit zehn Jahren will ich es lernen. Bislang habe ich keinen Lehrer und die Zeit gefunden. Jetzt, wo meine Kinder beginnen größer zu werden, werden ich sie dazu nutzen, dass sie mich dazu treiben, mit mir gemeinsam daran arbeiten.
 
RUND: Was reizt Sie mehr, die akustische oder die elektrische Gitarre?
Johan Micoud: Beides, in der Musik mag ich verschiedene Stilrichtungen. Ich mag U2 und besonders Bono Vox, den ich als Sänger und als Persönlichkeit schätze. Die Gruppe kämpft für bestimmte Dinge. Ich mag Menschen, die auch im Erfolg einfach geblieben sind. Mit seiner Popularität will er etwas verändern, er will anderen Menschen helfen. Mir würde es Freude machen, ihn eines Tages mal treffen zu können.
 
RUND: Sie schätzen es, wenn eine Band „für etwas kämpft“ - Sie sind also politisch, ob Sie wollen oder nicht.
Johan Micoud: Wirklicht nicht besonders. Aber mit zunehmendem Alter und durch meine Kinder bin ich etwas aufmerksamer, ziemlich ökologisch, ziemlich grün geworden. Ich versuche im Alltag alles zu tun, damit die Welt eine Zukunft hat.
 
RUND: In Ihrer Heimat, der C√¥te d’Azur, feiert der Front National größere Erfolge als die Grünen.
Johan Micoud: Das macht mir Angst. Es war sehr schade, dass Le Pen bei den letzten Präsidentschaftswahlen die Linke schlagen konnte. Im zweiten Wahlgang gab es dann eine Solidarität unter allen Franzosen. Nicht für Chirac – aber gegen die Front National, was wieder ein wenig beruhigend war. Ich bin für Toleranz. Jeder soll das machen, was er will ohne die anderen zu stören. Ich bin gegen Extremisten. Wenn es etwas Politisches an mir gibt, dann wäre es das.
 
RUND: Abgesehen vom Engagement eines Bono Vox, was bedeutet Musik noch für Sie?
Johan Micoud: Weil ich kein Instrument beherrsche, bewundere ich diese Fähigkeit um so mehr. Ich bewundere es, wenn Menschen kreativ sind und ich mag das Milieu. Florent Pagny und seine Musiker sind Freunde von mir geworden. Wenn du einem Gitarristen eine Gitarre gibst, macht er etwas gutes damit. Bei den Fußballern ist es genauso. Es ist immer etwas Neues, auch wenn es eine stabile Basis gibt. Wie in der Musik.
 
RUND: Idealerweise gibt man jemandem einen Ball und er macht damit etwas Intelligentes.
Johan Micoud: Genau. Es gibt Grundlagen und man lässt der Fantasie freien Lauf. Wie in der Kunst, ein Bild zu malen. Diese Freiheit des Geistes fasziniert mich.
 
RUND: Kann man ein Fußballspiel mit einem Konzert vergleichen?
Johan Micoud: Sogar mit einem Theaterstück. Der Zusammenhang ist ein wenig der gleiche: das Feld, die Tribünen und dann wird gespielt. Und davor ist Nervosität.
 
RUND: Ist die immer noch da?
Johan Micoud: Ja, das hört nie auf. Ich sage mir dann, dass man nicht mehr zurück kann. Wenn man spielt, ist das Gefühl verflogen. Manchmal weiß man nicht, warum der Ball dorthin und nicht woanders fliegt – wie bei einem Musiker, der dir sagen wird sagt, dass er nicht gut war, selbst, wenn er der Einzige war, der das bemerkt hat. Man muss versuchen, niemanden etwas merken zu lassen sich nichts anmerken zu lassen.
 
RUND: Bei Ihnen merkt man davon nichts Ihnen gelingt das offenbar gut. Während des Spiels machen Sie immer einen sehr konzentrierten Eindruck.
Johan Micoud: Es ist nett, dass Sie das sagen. Aber es kommt vor.
 
RUND: Im Fragebogen auf der Werder-Homepage nennen Sie als Lieblingsbuch „Hygiene de L’assassin“ von Amélie Nothomb, in dem Kritik an der Arbeit der Medien geübt wird. Der Hauptdarsteller, ein Literatur-Nobelpreisträger, findet Vergnügen daran, sich über Journalisten lustig zu machen.
Johan Micoud: Ich mag vor allem den Schriftsteller, der immer originelle Ideen hat. Der ist sehr von sich eingenommen und zerstört die Menschen, denen er begegnet. Einige Literatur-Journalisten wollen ihn psychisch fertigmachen, was nicht gelingt und nun werden sie ihrerseits zerstört. Und schließlich begegnet er einer Journalistin und in dem Maße wie sich die Rollen umdrehen, zeigt er sich von ihr beeindruckt.
 
RUND: Eine typische Journalisten-Frage können wir Ihnen jetzt nicht ersparen: Haben Sie Ihre Art zu spielen verändert, seitdem Ailton zu Schalke gewechselt ist?
Johan Micoud: Man versucht gleich zu spielen. Aber dadurch, dass Toni so schnell war, fehlen uns nun einige Anspielstationen in der Tiefe. Wir versuchen auf dem Spielfeld andere Lösungen zu finden und mit kleinen Schritten gelingt uns das auch. Was Miroslav betrifft : Wir müssen uns auf ihn einstellen und er auf uns.
 
RUND: Es gibt Beobachter, die sagen, dass sie in der vergangen Saison die beste Mannschaft sahen, die Werder Bremen jemals hatte.
Johan Micoud: Es stimmt, dass wir eine gute Mannschaft hatten, immerhin wurden wir Meister und Pokalsieger. Um das wieder zu schaffen, müssen wir in dieser Saison noch viel machen. Hinzu kommt, dass wir von jedem Gegner als Meister erwartet werden.

 

Johan Micoud
"Ich verstehe Zidane": In Cannes besuchte Micoud
gemeinsam mit dem Superstar das Fußballinternat Foto Axl Jansen

 


RUND: Ist Werders Spielsystem ein Vorteil gegenüber der Konkurrenz gewesen?
Johan Micoud: Alles kam zusammen. Wir haben uns im System wohlgefühlt und hatten die Spieler mit entsprechenden Offensiv- und Defensivqualitäten. Im Offensivbereich hatten wir eine enorme Qualität, es wird sehr schwer, die wiederzugewinnen. Das wird noch härter als die Meisterschaft in der vergangenen Saison.

RUND: Die offensive Spielweise scheint Ihnen besonders zu gefallen.
Johan Micoud: Ja, zu versuchen, den Ball so schnell wie möglich zum Leben zu erwecken mit möglichst wenigen Kontakten. Das Spiel ohne Ball.

RUND: Hat das Offensivspiel der Bremer geholfen, das negative Bild, das man in Frankreich vo deutschen Fußball hat, zu korrigieren?
Johan Micoud: Die Meisterschaft ist attraktiv, sie hat den höchsten Durchschnitt an geschossenen Toren pro Spiel. Bevor ich hierher kam, habe ich sehr viel mit Sagnol und Lizarazu geredet. Und das Erste, was sie mir sagten war : Vom Niveau des Angriffsspiels wirst du dir selber ein Geschenk machen, denn hier spielt man, um anzugreifen. Es ist ein bisschen schade, dass die Bundesliga vom europäischen Spitzenniveau ein wenig entfernt ist.

RUND: Also ist der deutsche Fußball besser als sein Ruf?
Johan Micoud: Als Junge sah ich die Spiele mit deutschen Mannschaften. Das war ziemlich hart, ziemlich männlich. Mittlerweile ist daraus ein ansehnliches Offensivspiel geworden.

RUND: Willy Sagnol hat sich beklagt, dass sich die deutschen Medien zu sehr auf die Stars konzentrieren würden.
Johan Micoud: Das stimmt, in Frankreich wird mehr vom Kollektiv gesprochen, von den Ausbildungszentren, weil sich jeder Spieler nur über das Kollektiv verwirklichen kann. Das ist die Basis für alles. In Deutschland spricht man lieber über die Führungsspieler. Die Tatsache, dass jeder wusste, wie der Mitspieler läuft, war unsere große Stärke im Vorjahr. Wenn du als Kollektiv stark bist, können sich die Spieler verwirklichen. Wie Toni, der 28 Tore geschossen hat. Man kann sehr gute Spieler nehmen, wie Frankreich bei der EM, wenn es im Kollektiv nicht läuft, hat man keinen Erfolg.

RUND: Erklärt dieser Mangel an Esprit die Krise des französischen Fußballs?

Johan Micoud: Die Leidenschaft war nicht da. Das perfekte Beispiel war Griechenland, die im Kollektiv spielten. In Frankreich ist eine neue Generation auf dem Platz und man hat noch zwei Jahre, um sich auf die Weltmeisterschaft vorzubereiten.

RUND: Und der Rücktritt Ihres Freundes Zinédine Zidane?

Johan Micoud: Ich verstehe ihn. Er hat Lust, sich auf seinen Verein zu konzentrieren. Es ist hart, seit einigen Jahren 60 bis 70 Spiele auf höchsten Niveau zu spielen. Er ist ein wenig müde und er ist so ehrlich, das zuzugeben.

RUND: Mit dem neuen Trainer Raymond Domenech könnten Ihre Chancen steigen, ins Nationalteam zurückzukehren.
Johan Micoud: Er hat mich bislang nicht angerufen. Es ist traurig, aber es ist nun einmal so. Aber wenn er mich riefe, würde ich mit großen Vergnügen kommen.

RUND: Worüber haben Sie mit Lizarazu und Sagnol noch geredet, wenn es nicht um die Equipe Tricolore ging?
Johan Micoud: Sie waren wirklich froh über die Atmosphäre in der Meisterschaft, wo man jeden Sonnabend in vollen Stadien spielt. Ein großer Unterschied im Vergleich zu Frankreich. Ein offensives Spiel vor vollem Haus mit einer sehr familiären Stimmung.

RUND: Sie empfinden die Stimmung in der Bundesliga als familiär?
Johan Micoud: Es gibt keine Schlägereien, was ich wirklich super finde. Man kann Frauen und Kinder ins Stadion mitnehmen. In den zwei Jahren habe ich noch nie etwas Derartiges gesehen oder in der Zeitung gelesen. Das ist sehr gut für das Image des Sports.

RUND: In Frankreich ist das anders?

Johan Micoud: Nicht im ganzen Land. Aber ein Pariser neben einem Marsellaiser das ist wie Krieg. Als wir bei Bayern um die Meisterschaft gespielt haben, immerhin ein sehr aufgeladenes Spiel, war meine Frau den ganzen Nachmittag in der Münchener Innenstadt. Sie hat gesehen wie die Fans von Bremen und München zusammen Bier tranken und gemeinsam eine Party feierten. So etwas ist wirklich schön.

Johan Micoud und seine Helden
Er liebt U2 und mag es auch in der französischen Musik gerne rockig: Micoud hört die Gruppe Zebda aus Toulouse, die sich in ihren Texten auch mit dem Rassismus in Südfrankreich beschäftigen und Noir Désir, einer der wenigen wirklich populären einheimischen Rockbands in Frankreich. Außerdem rotieren bei dem 31-Jährigen auch die CDs von NTM, „die für viele Dinge kämpfen“, so Micoud. Sie gelten als die meistbeachteten Rapmusiker des Landes. NTM trat 1994 bei einem Konzert in Toulon auf, um gegen die Wahlerfolge der rechtsextremen Front National zu protestieren. Neben dem Rock hat der Werderaner aus Cannes inzwischen auch Chansons des 1978 verstorbenen Jacques Brel schätzen gelernt: "Ich will das meinen Kindern näherbringen, damit sie die französische Heimat ein wenig kennenlernen." Weniger bekannt ist hierzulande der Chansonnier Francis Cabrel, von dem Johan Micoud in seiner Jugend alle Platten hatte, "der ist fast so etwas wie ein Dichter".

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