ST. PAULIS REKORDSPIELER

„Jackson Irvine hat mein Trikot“

Niemand hat mehr Erstligaspiele für den FC St. Pauli bestritten: André Trulsen ist dreimal als Profi und einmal als Co-Trainer mit dem Verein aufgestiegen. Was hält er von Fabian Hürzeler? Interview Matthias Greulich

 

Andre Ztulsen

André Trulsen am Osdorfer Born, wo er aufgewachsen ist Foto Andreas Lettow

 

André Trulsen, den beim FC St. Pauli alle „Truller“ nennen,  über
 
… den Aufstieg des FC St. Pauli am 12. Mai 2024.
Ich bin in dieser Saison noch bei Teutonia 05 Ottensen tätig. Wir hatten zeitgleich ein Spiel, sodass ich das Spiel gegen Osnabrück leider nicht live verfolgen konnte. Später habe ich die Bilder im Fernsehen gesehen und auch einige Nachrichten aus dem Stadion bekommen. Das war schon sehr emotional. Ich habe auch gesehen, dass Jackson Irvine mit meinem Trikot gefeiert hat. Da war ich etwas überrascht, fand es aber eine schöne Geste. Ich wusste über Thorge Blöcker, Zeugwart beim FC St. Pauli, dass Jackson Retro-Trikots sammelt. Vor einigen Monate hatte er dann auch eines von mir bekommen.
 
... seinen ersten Bundesliga-Aufstieg mit dem FC St. Pauli 1988.
Der war etwas ganz Besonderes. Wir hatten ein Jahr zuvor den Aufstieg in der Relegation verpasst und haben es dann 1988 gepackt. Die Mannschaft bestand fast ausschließlich aus Hamburger Jungs oder Spielern aus Norddeutschland. Wir waren ein eingeschworener Haufen. Viele von uns hatten schon in der Jugend bei St. Pauli gespielt. Ich selbst bin 1986 vom SV Lurup dazugekommen. Ich fühlte mich dem Stadtteil verbunden und sehr nah. Wir hatten schon immer vor den Spielen Berührung mit unseren Fans, weil wir ja durchs Clubheim in die Kabine gingen. Die Verbindung mit den Fans war eng. Damals entstand der Hype um den FC St. Pauli. Mit dem Totenkopf, der durch die linke Szene ins Stadion gebracht wurde. Nach dem Sieg in Ulm wurden wir von unseren Fans am Flughafen gefeiert, das war für unsere Verhältnisse enorm. Es gab fast einen Platzsturm auf dem Rollfeld. Und später sind wir im Bus mit Tempo zehn an die Rothenbaumchaussee gefahren, um den HSV zu grüßen, und anschließend auf den Kiez. Dort wurde weiter gebührend und ausgiebig gefeiert.
 
… den Platzsturm beim Aufstieg 1995 am Millerntor.
Damals sind die Zuschauer wohl etwas zu früh auf den Rasen gelaufen. Es war die 87 Minute. Aber der Schiedsrichter Bodo Brandt-Cholleé hat überragend reagiert. Uns Spielern war angst und bange, weil wir teilweise schon die Trikots und Hosen schon verschenkt hatten bzw. hatten die Fans uns diese schier vom Leib gerissen. Keiner wusste, ob wir noch mal aufs Feld gehen müssten. Es gab Durchsagen vom Stadionsprecher an die Fans, den Platz zu räumen. Dann die Erlösung mit der rettenden Durchsage von Christian Hinzpeter, dem damaligen Vizepräsidenten, dass das Spiel beendet und wir aufgestiegen sind. 
 
… den Aufstieg 2001 in Nürnberg. 
Die Verbindung zwischen älteren und jüngeren Spielern hat gut geklappt und wir hatten eine geschlossene Elf auf dem Platz. Es gab sehr gute Spieler, die sich aufdrängten, wie Deniz Baris, Ivan Klasnic, Christian Rahn und Zlatan Bajramovic. Das hat zu uns „Erfahrenen“ gepasst. Wir waren sicher nicht unter den Favoriten in der Saison, aber wir haben uns in einen Rausch gespielt und das gute Fußball Momentum für uns gehabt. Das Besondere an dem Spiel war, dass unser Gegner bereits aufgestiegen war. So konnte das ganze Stadion beim Abschiedsspiel von Andy Köpke gemeinsam feiern. Wir flogen zurück und tausenden Menschen haben auf uns auf dem Heilgengeistfeld begrüßt und gefeiert. Das war sensationell. 
 
... den Aufstieg 2010 als Co-Trainer beim Auswärtsspiel in Fürth.
Das war etwas ganz anderes, weil du als Trainer für das große Ganze verantwortlich bist. Jeder aus unserem Staff hatte hervorragende Arbeit geleistet. Es war ein großartiges Gefühl, die Mannschaft über die ganze Saison dahin gebracht zu haben, dass wir am Ende aufgestiegen sind. 
 
… den Unterschied des Lebens als Profi zwischen 1988 und 2024.
Im Internetzeitalter ist es schwieriger, sich als Mensch auszuleben bzw. abzugrenzen. Früher hat es keinen interessiert, wenn du mal ein Bierchen unter der Woche oder nach dem Spiel getrunken hast. Das gehörte dazu. Genauso wie die berühmt berüchtigte Küche im Clubheim bei Brigitte, wo sich immer einige von uns trafen. Ich habe jeden Tag genossen, an dem ich für St. Pauli gespielt habe. Alles hat seine Zeit – heute ist das Profitum mit damals nicht mehr zu vergleichen.
 
… seinen Kontakt zum FC St. Pauli?
Ich bin und bleibe im Herzen St. Paulianer, daher habe ich noch viel Kontakt zu St. Paulianer:innen. Ich bin auch in der Traditionsmannschaft – der Altliga FC St. Pauli - aktiv. Hier kommen drei, vier Generationen zusammen und alle haben noch Spaß am Spiel und freuen sich für die Verein aufzulaufen. Immer wenn wir uns treffen, ist es ein schönes Erlebnis. Unser ältester in der Runde ist Heini Deiniger, der von 1960-1966 für den Verein gespielt hat und auch noch gegen Uwe Seeler gekickt hat – wie er gerne und ausführlich berichtet. Es gibt auch einen engen Freundeskreis aus der Aufstiegsmannschaft 1988/1989, ua. mit Jens Duve, André Golke und Klaus Ottens. Kontakt habe ich auch noch zu einigen Kollegen aus dem aktuellen Staff, bei denen ebenfalls durch die Zusammenarbeit eine Freundschaft entstanden ist.
 
… die Chancen des Aufsteigers FC St. Pauli 2024 in der Bundesliga?
Ich traue der Mannschaft sehr viel zu. Die jüngste Zeit hat gezeigt, dass die zwei Aufsteiger nicht die ersten Abstiegskandidaten sind. Die gute Saison von Heidenheim ist das aktuelle Beispiel, obwohl das Team von der Alb als klarer Absteiger gehandelt worden war. Wieder ein „kleinerer“ Verein mehr in der 1. Liga - davon tummeln sich dort schon einige. Mit diesen Gegnern kannst du dich auf jeden Fall messen. Es ist auf jeden Fall schwieriger, in die Erste Liga aufzusteigen als sich dort zu halten. Aufzusteigen, also 16 Mannschaften hinter sich zu lassen, ist schon etwas anderes. Für mich spielt der FC St. Pauli relativ dominant, kontrolliert und überzeugend. Sie waren oftmals die bessere Mannschaft. Ich traue ihnen mit diesem Spielstil eine gute Rolle in der 1. Bundesliga zu.
 
… das System von Trainer Fabian Hürzeler.
Sie haben klare Abläufe und sie haben einen klaren Plan, was sie in der nächsten Aktion machen wollen. Sie sind dem Gegner immer einen Schritt voraus. Wenn der Gegner den Torwart angreift, wissen die eigenen Spieler, wo die Räume sind, die bespielt werden können. Wenn sie Bälle verlieren haben sie ein unfassbar gutes Gegenpressing, wobei sie kaum Torchancen zulassen. Die Automatismen sind seit zwei, drei Jahren da und greifen. Außerdem sind die Standards ihre Stärke. Dadurch haben in wichtigen Phasen des Spiels dadurch die Tore gemacht. Und das gibt Sicherheit. Sie haben viele Torschützen in ihren Reihen, jeder der offensiven Mittelfeldspieler kann Tore machen. Marcel Hartel sowieso, der eine überragende Saison gespielt hat. Sie haben letztes Jahr die Erfahrung gemacht, die Saison nicht mit dem Aufstieg zu Ende zu bringen und daraus gelernt. Sie hatten über die Saison hinweg einen größeren Vorsprung als in den Jahren zuvor, trotz einer Schwächephase.  Jetzt haben sie es super nach Hause gebracht: Glückwunsch!
 
… warum er alle Angestellten des Vereins 2002 zu seiner Abschiedsparty eingeladen hat, was sonst keinem Profi in den Sinn gekommen war.
Das war mir ein großes Anliegen, weil ich viele Jahre mit den meisten zusammengearbeitet hatte. Zusammen mit Ihnen allen habe ich Freude, Spaß, Niederlagen und Erfolge erlebt. Ich habe die Zeit sehr genossen habe. Nur als Einheit kann man erfolgreich sein. Gemeinsam habe ich mit einigen auch die ganz schlechten Zeiten miterlebt, als es dem Verein gar nicht gut ging. Als es die Retter-Aktion gab und die „Bokalserie“, die Geld in die leeren Kassen gespült hatten. Es war übrigens eine überragende Feier.

André Trulsen
Das Hemd aus der Hose: Der achtjährige André (u.r.) in der E-Jugend des SV Osdorfer Born.


 
… seine Jugend am Osdorfer Born.
Meine Jugend war auch nicht ganz einfach, man hat sich hier und da mal durchgeboxt. Aber wir waren eine gute Gemeinschaft, die sich immer nach der Schule auf dem Bolzplatz getroffen hat. Wir haben uns als Gruppe gut und sicher gefühlt. Auch wenn wir nicht so viel hatten, hatten wir Spaß und Freude. Ich bin Achtern Born großgeworden. Gegenüber liegt die Schule Kroonhorst mit einer Rasenfläche. Wenn wir dort vom Platz geschmissen wurden, haben wir im Hof gekickt. Dort gab es ein Gitter vor einem Kellereingang, das war unser Tor, das laut vibrierte. Für die Nachbarn war das nicht so toll. Auch eine Scheibe ging hier und da mal zu Bruch. Es gab Nachbarn, die uns den Ball weggenommen haben. Abends hat mein Vater den Ball dann dort wieder abgeholt. Ich erinnere mich gerne an die Zeit zurück, die wirklich eine gute war. Einige Freundschaften aus der Zeit gibt es heute noch.
 
… seine heutige Beziehung zum Born.
Einiger meiner Freunde von damals habe ich immer noch. Dazu gehört mein bester Freund und natürlich mein Bruder. Sie wohnen nicht mehr direkt in Osdorf, sind aber im Hamburger Westen geblieben, während ich jetzt mit meiner Frau in Wellingsbüttel lebe. Als meine Eltern noch gelebt haben, war ich natürlich regelmäßig hier. Mein Vater ist vor zwölf, meine Mutter vor 17 Jahren gestorben. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt und sage immer noch: „Ich bin stolzer Borner!“

 … den Weggang als 17-Jähriger vom SV Osdorfer Born zu HEBC.
Beim SV Osdorfer Born hatten wir gehofft, dass uns der Verein zur höchsten Klasse im Jugendbereich anmeldet. Als das nicht geschah, habe ich und fünf weitere Jungs – die ebenfalls so hoch wie möglich spielen wollten – einen Wechsel forciert. Mein Vater war sehr aktiv beim SV Osdorfer Born als langjähriger Ligaobmann und auch Schiri-Obmann. Er war nicht gegen den Wechsel, denn er hat sich das Bestmögliche für mich gewünscht.
 
… seine Beziehung zum HSV.
Ich bin mit dem HSV groß geworden, stand auch mal in der Westkurve und war großer Fan von Kevin Keegan. Eine super tolle Zeit. Sie waren jahrelang die Nummer eins oder zwei in Deutschland. Es war großartig, das hautnah zu erleben. Ich mag den englischen Fußball und besonders Liverpool. Ich verfolge bis heute, was die Reds machen. Kenny Daglish und Ian Rush, die Offensivleute, die Tore gemacht haben, fand ich beeindruckend. Natürlich habe ich auch einige gute Bekannte aus dem Rot-Hosen-Umfeld, die ich sehr schätze.
 
… seinen zweiten Spitznamen „Kuchen“.
Auf Auswärtsfahrten wurden Bleche mit Butterkuchen mitgenommen. Da ich davon immer am meisten gegessen habe, hatte ich meinen Spitznamen „Kuchen“ weg.
 
… Ähnlichkeiten zwischen Liverpool und Hamburg.
Es besteht zweifellos eine gewisse Ähnlichkeit. Liverpool ist die kleine Schwester von Hamburg: Arbeiterstadt, Hafenstadt, Handelsstadt, Pub- und Club-Kultur. Es gibt Fußballclubs, die sehr stadtteilbezogen sind. Auch dort gibt es Stadien, die mitten im Wohnviertel liegen und die meisten Fans zu Fuß kommen. Die Liverpooler lieben Fußball und sie lieben Jürgen Klopp. Einmal hatte ich am Boxing-Day das Spiel Liverpool – Newcastle in der Anfield Road gesehen. Ich hatte die Karten über einen Kontakt zu Jürgen Klopp bekommen. Auf der Eintrittskarte stand sein Name. Mein englischer Kollege war schwer beeindruckt. Ich habe ihm die Karte nach dem Spiel geschenkt und sie hängt nun eingerahmt bei ihm zuhause.
 
… seine Zeit in Stuttgart als Co-Trainer beim VfB.
Die Schwaben sind ein Volk für sich, mit dem Dialekt bin ich nie so richtig klargekommen. Meine Frau ist Badenerin – das verhält sich zu Schwaben etwa so wie HSV und Werder Bremen. Ich habe die Zeit dort sehr genossen, auch wenn es nicht mit Hamburg zu vergleichen ist. Ich habe die Weinberge geliebt und wurde zum Weintrinker. Die Nähe zu den Alpen ist sehr praktisch – so konnte man immer mal spontan wandern und Skifahren gehen. Auch die schwäbische Küche hat Spuren hinterlassen: Ich liebe Maultauschen, Spätzle und mal einen Wurstsalat mit einem Radler dazu. Aber die Schwaben haben auch ein sonniges Gemüt, haben ein großes Fußballherz und ich wurde von allen herzlich aufgenommen.
 
… die Beziehung zu Holger Stanislawski.
Wir hatten eine großartige intensive Zeit zusammen, die durch ein enges Vertrauensverhältnis und Wertschätzung geprägt war. Wir waren so ein bisschen wie Arsch und Eimer. Stani hat ja auch mal den Spruch gebracht, wenn ich Brüste hätte, würde er mich heiraten. Das zeigt ja schon von Zweisamkeit und Innigkeit. Aber alles hat seine Zeit. Unsere beruflichen Wege haben sich getrennt und somit auch die Lebenswege. Wir laufen uns hier und da mal über den Weg und das Wiedersehen ist dann immer herzlich. Es dreht sich um das gemeinsam Erlebte und Erreichte, das uns immer verbinden wird. Erinnerungen und Verbindungen sind das, was am Ende immer bleibt.

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