ARRIGO SACCHI
„Der Skandal hat Italien den Traum genommen“
Der einstige Erfolgstrainer gewährt tiefe Einblicke in die italienische Fußballseele. Mit seiner schonungslosen Analyse macht sich Arrigo Sacchi nicht nur Freunde im Land des Ex-Weltmeisters. Lesen Sie in Teil 1 des RUND-Interviews, warum Geld nicht geduldig macht. Interview Vincenzo Delle Donne

Arrigo Sacchi
Das Mäzenatentum hat uns faul gemacht“: Der einstige Erfolgstrainer Arrigo Sacchi hat keine Lust mehr auf die Tycoone des Landes Foto Pixathlon



RUND: Signor Sacchi, wie müssen wir Sie ansprechen? Herr Doktor Honoris Causa Sacchi? Schließlich hat Ihnen die Universität Urbino 2005 die Ehrendoktorwürde in Kommunikationswissenschaften verliehen.
Arrigo Sacchi: Sie können mich ruhig mit Herrn Sacchi anreden!

RUND: Also Herr Sacchi, was war der Sündenfall im italienischen Fußball?
Arrigo Sacchi: Der Sündenfall war, dass der Fußball zu keinem Zeitpunkt als reiner Sport angesehen wurde, sondern als Spiel, und im Spiel ist das Schummeln erlaubt. In Italien wird vom Fußball verlangt, dass man unter allen Umständen siegen muss. Winston Churchill sagte einmal, wir Italiener würden die Kriege verlieren als seien es Fußballspiele und wir würden Fußballspiele spielen, als seien es Kriege. In diesem Ausspruch liegt viel Wahrheit. Wir leiden noch immer unter dem Syndrom des Kolosseums.

RUND: Sie meinen Fußball als Ablenkungsmanöver für die Massen?
Arrigo Sacchi: Genau. Die Tycoone des Landes, denen die Klubs gehörten, wollten den Sieg um jeden Preis. Ich erinnere mich an mein Champions-League-Finale gegen Benfica Lissabon. Vor dem Spiel kam Milan-Präsident Silvio Berlusconi in die Kabine und sagte: „Herr Sacchi, Sie müssen alles daran setzen dieses Finale zu gewinnen. Denn dieses Spiel zu gewinnen bedeutet für mich ein Plus von 60 oder gar 70 Prozent.“ Ich weiß nicht, ob der Fußball in Spanien, Portugal oder Brasilien moralischer ist. Was bei denen anders ist, ist, dass der Fußball als Spektakel aufgefasst wird. Wenn man gewinnt und schlecht spielt, kann man sich darauf nichts einbilden. Bei uns ist das anders: Siegen ist alles. Schlau zu sein ist in Italien etwas, worauf man stolz ist. Die Grenze zur Unehrlichkeit ist dann natürlich fließend.

RUND: Wie kann der italienische Fußball aus diesem Fußballsumpf herauskommen?

Arrigo Sacchi: Das kann nur erfolgen, wenn man sich an anderen Fußballländern orientiert. England ausgenommen, denn auch dort läuft der Fußball Gefahr zu kollabieren. Das A und O ist, dass die Clubs solide haushalten. Das allein vertreibt all diejenigen, die sich dem Fußball nähern, um ihn auszubeuten. Unser Dilemma ist, dass nicht alle im Fußballbetrieb den Fußball lieben. Da sind beispielsweise die Politiker, die nur Wahlstimmen einzuheimsen wollen. Und die Industriellen engagieren sich im Fußball, um die eine oder andere Regierungskonzession zu erhalten. Das erklärt auch, warum kaum Jemanden die richtigen Bilanzen der Clubs interessierten. Dabei sind sie von fundamentaler Bedeutung. Was wir jetzt brauchen sind Transparenz und die Einhaltung der Regeln. Der Sieg muss wieder allein von den Dingen abhängen, die sich auf dem Fußballfeld abspielen. Und wir müssen wieder stärker die Jugendarbeit fördern, wir brauchen ein Netz von Beobachtern. Kurzfristig ist der italienische Fußball nicht auf Rosen gebettet.

RUND: Wie soll die Erneuerung gelingen, wenn man ständig von neuen Skandalen gebeutelt wird?
Arrigo Sacchi: Aber es tut sich was, ein kritisches Bewusstsein greift um sich. Lange Zeit war das nicht so. Man sah, dass die Schiedsrichter eklatante Fehler machten und nannte das „psychologische Unterwürfigkeit“. Heute nennt man die Dinge beim Namen und sagt Manipulation dazu. Und es werden endlich Sanktionen ergriffen.

RUND: Die Sportgerichte haben gleichwohl Milde walten lassen.
Arrigo Sacchi: Das stimmt schon, aber ich will das Positive dabei betonen. Ich weiß, wie schwierig es in Italien ist, schon diese Strafen auszusprechen.

RUND: Sie betätigen sich nunmehr „nur“ als Kolumnist für die „Gazzetta dello Sport“, ecken aber auch damit bei den Vereins- und Verbandsfunktionären an.
Arrigo Sacchi: Man sagt mir oft, ich solle meine Kommentare etwas abmildern. Aber dafür liebe ich diesen Sport zu sehr. Nehmen wir mal das Beispiel Tifosi. Unsere Stadien sind wahre Gefängnisse, als würden darin Horden von Gefängnisinsassen hausen. Wenn wir den Fußball wieder attraktiv machen wollen, müssen wir die Stadien modernisieren und mit Restaurants, Banken und Geschäften ausstatten.

RUND: Mir scheint es, als seien Sie vom einstigen Propheten zur Kassandra des italienischen Fußballs mutiert.
Arrigo Sacchi: Ich will mich nicht als Unkenrufer betätigen. Ich hatte das Glück, meine Trainerlaufbahn in Fusignano zu beginnen. Und hier gab es kein Geld, um irgendwelche Spieler zu verpflichten. Ich sagte eines Tages zu dem sportlichen Direktor: „Alfredo, wir brauchen einen Verteidiger!“ Daraufhin gab er mir ein Trikot mit der Nummer 3 und sagte: „Du bist der Trainer, mach aus einem Spieler einen Verteidiger!“ Ich begriff, dass ich mir den Verteidiger unter meinen Spielern formen musste. Ich will damit sagen, dass wir in Italien verlernt haben, Spieler heranzubilden. Nur wenige lieben den Fußball so wie wir, und wir haben eine Fußballkultur und -tradition, die auf der Welt ihresgleichen sucht. Aber in den letzten Jahren glaubten wir, dass man mit Geld alles kaufen könne.

RUND: Was ja zum Teil wirklich stimmte.
Arrigo Sacchi: Ja, aber zu welchem Preis? Es muss ein Umdenken erfolgen. Das Mäzenatentum hat uns faul gemacht. Wir Italiener sind ja schon dafür bekannt, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Im Fußball haben wir nicht mehr nach neuen Einnahmemöglichkeiten gesucht. Wir hatten ja den Mäzen, der uns aus der Patsche half. Ich habe zuletzt für Real Madrid gearbeitet und habe gestaunt, welche Einnahmen der Club aus dem Marketing hatte. Zum Teil 45 Prozent, und zwar bei Gesamteinnahmen von bis zu 350 Millionen Euro. Dieser Verein investierte das gesamte Geld.

RUND: Allerdings ohne sonderlich erfolgreich zu sein, zumindest in den vergangenen Jahren.

Arrigo Sacchi: Ja, aber in Italien war die Finanzsituation hanebüchen. Es gab Clubs, die eine Bilanz von 150 Millionen hatten und dann 100 Millionen für die Verpflichtung eines einzigen Spielers ausgaben. So geschehen mit Gabriel Batistuta beim AS Rom. Diese Misswirtschaft hat zu einer anormalen Situation geführt, und es ist klar, dass dann sämtliche Dämme gebrochen sind.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews mit Arrigo Sacchi, was sein einstiger Gegner bei Milan, Marco van Basten, heute über seine Methoden denkt, und wann Sacchi wieder ein Fußballteam trainiert.

Arrigo Sacchi
war von 1991 bis 1996 italienischer Nationaltrainer. Als Trainer des AC Mailand wurde er Ende der 80er-Jahre als Begründer eines einzigartigen Offensivspiels gefeiert. Mit Milan gewann er 1989 und 1990 den Weltpokal, den europäischen Supercup und den Europakol der Landesmeister. Bereits 1988 war er italienischer Meister geworden. Vom Dezember 2004 bis Ende 2005 arbeitete der heute 61-Jährige Sportdirektor bei Real Madrid.

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