BALLBESITZ
Weniger ist mehr
Moderne Mannschaften sind heute erfolgreich, selbst wenn der Ball vor allem in den Reihen des Gegners zirkuliert. Denn heute ist ballbesitzlose Dominanz gefragt. Von Daniel Theweleit.

Ball
Technisch starke Spieler wie Sibusiso Zuma lieben den Ball: Aber häufiger Ballbesitz ist nicht immer
gleichbedeutend mit dem Erfolg des Teams Foto Stefan Schmid



Mirko Slomka hat viel erlebt in den vergangenen Monaten, doch der ehemalige Cheftrainer des FC Schalke 04 bekommt immer noch leuchtende Augen, wenn er sich an zwei Partien des abgelaufenen Fußballjahres erinnert: die Duelle mit Werder Bremen. Schalke gewann jeweils mit 2:0, und das waren die fußballerischen Highlights für den Trainer. „Ganz, ganz tollen Sport“ habe sein Kollektiv da geboten, sagt Slomka, dabei fehlte den Schalkern gerade in diesen beiden Partien eine Qualität, die traditionell als eines der wichtigsten Merkmale einer gelungenen Leistung gilt: viel Ballbesitz.

Im Hinspiel in Gelsenkirchen erreichte Schalke einen Wert von mageren 43,2 Prozent, in Bremen waren es sogar nur 40,5, und dennoch gab es kaum Spiele, in denen die Mannschaft souveräner wirkte. Niemand behauptete hernach, dass die Bremer besser gewesen seien. Ballbesitz ist längst kein zwingender Faktor mehr, wenn es darum geht, Dominanz zu erzeugen. Das weiß natürlich auch Joachim Löw. „Die Dinge haben sich eben verändert“, sagt der Bundestrainer. „Vor wenigen Jahren hat man noch gesagt, die Mannschaft, die den meisten Ballbesitz hat, gewinnt. Das ist falsch. Ballbesitz ist gar nicht mehr so entscheidend. Entscheidend ist die Effizienz.“ Man könnte auch sagen: Qualität des Ballbesitzes.

Noch drastischer formuliert es Uwe Rapolder: „Zu lange Ballzirkulation ist tödlich.“ Seinen Bielefelder Systemfußball kann man als Prototyp dieses auf ballbesitzlose Dominanz angelegten Fußballspiels bezeichnen. Schon Ende der Saison 2004/2005 behauptete Rapolder: „Wir haben alle Spiele verloren, in denen wir mehr Ballbesitz hatten.“ Zirkuliert der Ball nämlich lange durch die eigenen Reihen, hat die gegnerische Abwehr genug Zeit, ihre Ordnung zu finden. Nachdem die athletischen Fähigkeiten der Bundesligafußballer in den 90er Jahren massiv verbessert wurden und taktische Abläufe wie das Verschieben und das Erzeugen von Überzahl in Ballnähe Standard geworden sind, hilft die „optische Überlegenheit“, wie Fernsehreporter gerne sagen, nur noch selten.

Ist die Abwehr erstmal sortiert, öffnet sich auch nach ausgiebigen Kombinationsstafetten nur noch sporadisch die Lücke zur zwingenden Chance. Große Individualisten sind dann nötig, Leute die den verengten Raum mit einem genialen Pass, mit einem rasanten Dribbling oder einer kunstvollen Flanke öffnen können. Der FC Barcelona der Saison 2005/2006 beherrschte diesen Zauber fantastisch, und wenn die Faktoren Einzelkünstler und Kombinationssicherheit sich mischen, ergibt sich mitunter eine Schönheit des Spiels, die für Viele unübertroffen ist. Arsenals Trainer Arsène Wenger sagte einmal, er erlebe diesen Moment des höchsten fußballerischen Genusses nur „drei, vier mal pro Saison“. Für die meisten Teams wird solch ein Spiel aber immer Utopie bleiben.

Denn wenn die Individualisten fehlen oder außer Form sind, wirkt dieser auf Ballbesitz ausgerichtete Spielansatz oft hilflos. Die von den Stars wie Ruud van Nistelrooy oder Roy Makaay bereinigte holländische Nationalmannschaft erlebt das derzeit, und der früher so virtuos kurzpassende SC Freiburg war zuletzt Jahre lang so etwas wie der Großmeister der Ineffizienz. Aufgrund der vorübergehenden Schwächen von Ronaldinho, Deco oder Lionel Messi und der Verletzung von Samuel Eto’o unterlag selbst der FC Barcelona in der diesjährigen Champions League völlig verdient dem FC Liverpool, der sein Spiel darauf anlegt, den Ball schnell und geradlinig nach vorne zu tragen. Der Titelverteidiger hatte im Heimspiel in Barcelona, das er mit 1:2 verlor, 62 Prozent Ballbesitz. Das Spiel wurde zur eindrucksvollen Darbietung der Vergeblichkeit des Kombinierens.

In der Bundesliga ist es mittlerweile so, dass häufiger jene Teams gewinnen, die seltener am Ball sind. Nach dem 29. Spieltag gab es 94 Siege der optisch unterlegenen Mannschaft, und nur 77 Gewinner mit mehr Ballbesitz. 15 mal gewann eine Mannschaft mit einem Wert von genau 50 Prozent. Immer mehr Trainer gehen daher dazu über, nach Ballgewinn schnell, riskant und schnörkellos nach vorne zu spielen. Die Erkenntnis des norwegischen Taktikfuches Egil Olsen, dass man innerhalb der ersten 20 Sekunden nach dem Ballgewinn – so lange dauert es etwa, bis eine Abwehr ihre Idealordnung gefunden hat – die besten Chancen auf einen Torerfolg besitzt, hat sich durchgesetzt.

Ralf Rangnick führte schon vor Jahren den Begriff „Vertikalfußball“ ein, als Gegenmodell zum Querpassspiel der Nationalmannschaft vor der Ära Klinsmann, dass Kontrolle nur vortäuschte. In der Saison 2004/2005, als Schalke unter dem damaligen Trainer Rangnick Zweiter in der Bundesliga wurde, hatte die Mannschaft durchschnittlich nur 48,6 Prozent Ballbesitz. Nach Eroberung des Spielgerätes versuchten die Spieler umgehend, den schnellen Ailton anzuspielen. Der rannte und schloss ab. Klar, dass der Ball dann schnell wieder beim Gegner war. Oft allerdings zum Anstoß nach Gegentor.

Nun ließe sich einwenden, dass es sich bei diesem Spielansatz um nichts anderes als das klassische Konterspiel handle. Energie Cottbus wäre dann so etwas wie ein leuchtendes Vorbild, denn die Lausitzer schafften mit dem sagenhaft niedrigen Wert von 41,6 Prozent Ballbesitz 10 Siege nach 29 Spielen der abgelaufen Saison und standen damit auf dem siebten Tabellenplatz. Für Trainer Petrik Sander besitzt die Menge des Ballbesitzes trotzdem „eine gewisse Wertigkeit“. Energie spielt seinen Konterfußball aus einer Notlage heraus, denn „wenn wir anfangen auf Ballbesitz zu spielen, dann würden wir so viele Fehler produzieren, die es dem Gegner sehr, sehr leicht machen würden, gegen uns Tore zu erzielen“, erklärt der Trainer.

Schalke, aber auch Teams wie dem FC Liverpool oder dem FC Chelsea gelingt es hingegen, trotz geringerer Spielanteile dominierend zu sein. Das ist die eigentliche Neuerfindung. „Wir verteidigen, um anzugreifen“, sagt Slomka. Die Defensivarbeit ist strategisch so ausgerichtet, dass der Ballgewinn möglichst in Situationen erfolgen soll, aus denen sich ein schneller Gegenangriff entfalten lässt. Ein gewonnener Zweikampf mit folgendem Ballbesitz bei aufgerücktem Gegner ist natürlich viel wertvoller als ein Zweikampf, an dessen Ende der eigene Torhüter abschlagen darf. Klinsmann und Löw haben daher die „aktive Balleroberung“ als eine von fünf Leitlinien der „Deutschen Spielphilosophie“ eingeführt, die nun an der Hennes-Weisweiler-Akademie gelehrt wird. Es geht nicht mehr darum, in der Defensive zuallererst das Spiel des Gegners zu verhindern, richtig gute Defensivspieler legen es vielmehr konsequent darauf an, den Ball in einem möglichst günstigen Moment zu stehlen.

Spieler, die häufig an qualitativ hochwertigen Ballgewinnen beteiligt sind, agieren meist unauffällig. Sie sind es aber, die das ganze Team um einige Prozent besser erscheinen lassen. Fabian Ernst, erfüllte diesen Job in der abgelaufenen Saison beispielsweise mit Bravour, Torsten Frings ist ein Meister des Fachs und nach Michael Ballacks Defensivgrätschen landet der Ball fast immer im Fuß eines Mitspielers. „Spiele werden in einer Mittelfeldzone gewonnen, wo es darum geht, Zweikämpfe zu gewinnen, um dann die Ausgangspositionen zu erarbeiten, aus denen das schnelle Spiel möglich ist“, sagt Slomka. Idealerweise ereigne sich der Ballgewinn „im Zentrum des Spielfeldes und möglichst weit vorne“, ergänzt Löw. „Du kannst den Ball zwar außen einfacher gewinnen, aber zentral hat man mehr Gestaltungsmöglichkeiten“, meint der Bundestrainer. Sechs Spieler tragen die Hauptverantwortung für solch hochwertige Ballgewinne: die beiden Innenverteidiger, zwei zentrale Mittelfeldspieler und die beiden Stürmer.

Der englische Kick and Rush weist viele Ähnlichkeiten mit dem ballbesitzlosen Dominanzfußball auf. Deshalb gibt es auf der Insel schon lange ein ausgeprägtes Gefühl für die Bedeutung bestimmter Mittelfeldzweikämpfe. Vielleicht ist dieses Bewusstsein ein Mosaikstein der gegenwärtigen Dominanz des englischen Klubfußballs, jedenfalls applaudieren die Leute auf der Insel oft frenetisch, wenn ein Spieler den Ball 35 Meter vor dem eigenen Tor ergrätscht. Das hat nicht nur mit der Wertschätzung von körperlichem Einsatz zu tun. Es gibt einfach ein feineres Gespür für die Bedeutung dieser Spielsituation.

Doch auch in Deutschland wird der Wert des Defensivzweikampfes fürs Offensivspiel immer höher geschätzt. Erstaunlich ist nur, dass man nicht viel früher darauf kam, wo doch in Deutschland jene Künstler, die gut organisierte Abwehrreihen knacken können, so rar sind. Rangnick erfand einst sogar den Begriff des „Pressingopfers“, der einen Spieler markieren soll, der technische Schwächen hat. Der wird dann absichtlich frei gelassen, damit er den Ball erhält, während alle mit einem einfachen Pass erreichbaren Mitspieler zugedeckt werden. So lassen sich qualitativ hochwertige Ballgewinne provozieren. So übt man Dominanz aus, ohne den Ball zu haben.

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