Taktik Nationalelf
Die Systemfrage
Es war ein Bruch mit der eigenen Geschichte: Seit 2004 spielt die Nationalelf mit Raumdeckung und ist offensiv ausgerichtet. Lange hielt man in Deutschland religiös am Libero fest. Viel zu lange. Von Roger Repplinger. Ein Auszug aus dem Buch „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg" .
Grafik: Sven Taucke, Foto: Pixathlon
Oft waren die anderen besser. Die Ungarn 1954. Die Niederländer 1974. Die Franzosen 1982 und 1986. „Ich bin davon überzeugt, die Welt weiß, dass das bessere Team verloren hat“, sagte Michel Platini nach der Halbfinale-Niederlage im Elfmeterschießen der WM 1982. Für den internationalen Fußball waren die Erfolge der deutschen Nationalmannschaft – die besser rennen, kämpfen und das Spiel des Gegners zerstören konnte – ein mittleres, für den nationalen Fußball ein großes Problem.
Es gab keinen Grund, etwas zu verändern.
Über Jahrzehnte hinweg spielte Deutschland einen defensiven, aggressiven, destruktiven Fußball. Mit Libero, Vorstopper, Manndecker. Klappte meist. Auch im Mittelfeld gegen den Mann, wenn der Gegner dort einen Guten hatte: Willi Schulz gegen Pelé, Berti Vogts gegen Johan Cruyff, Guido Buchwald gegen Diego Maradona, Dieter Eilts gegen Paul Gascoigne. Grätschen, halten, foulen, grätschen, schubsen, grätschen …
Machte den Zuschauern keinen Spaß, den Spielern auch nicht, brachte aber Erfolg. Dieser Stil überlebte Generationen von Aktiven und Trainern. Inzwischen sind wir ihn los.
Den deutschen Fußball-Stil gibt es seit Nerz. Otto Nerz, Reichstrainer von 1926 bis 1936. Vor Nerz beruft der „Bundesspielausschuss“, ein vom DFB-Bundestag gewähltes Gremium, die Spieler der Nationalelf. Kriterium ist der Proporz. Für die Ausschussmitglieder zählt, dass Spieler ihres Landesverbandes berufen werden. Größere Landesverbände setzen mehr Spieler durch, ob die zusammenpassen, alle Positionen besetzt sind, welche Qualität sie haben: unwichtig.
Fritz Szepan (l.) und Siegmund Haringer bei der WM 1934 in Italien. Das Foto zeigt die späteren WM-Dritten vor dem mit 1:3 verlorenen Halbfinale gegen die Tschecheslowakei in Rom. Foto Pixathlon
Die Nationalelf ist ein zusammengewürfelter Haufen ohne gemeinsame Vorbereitung auf die Spiele. Sepp Herberger, der in den zwanziger Jahren dreimal für die Nationalelf aufläuft, sagte: „Es konnte vorkommen, dass wir Spieler uns erst kurz vor Spielanpfiff bekannt machten.“ Angenehm, Herberger, und was spielen Sie? Unter Reichs- und Bundestrainer Herberger gibt's so was nicht.
Gespielt wird 2-3-5: zwei Verteidiger, davor eine offensive Läuferreihe, die Seiten-, oder Außenläufer besetzen die Außenlinien und attackieren bei Ballbesitz des Gegners dessen Außenstürmer. Der Mittelläufer baut das Spiel auf, die fünf Angreifer stehen auf einer Linie.
Nerz führt das „W-M-System“ des englischen Trainers Herbert Chapman ein: 3-2-5, mit einer wie ein „M“ gestaffelten Abwehr und einem wie ein „W“ gestaffelten Sturm. Bei der WM 1934 in Italien spielt die deutsche Elf mit drei Verteidigern. Im Spiel um Bronze gegen Österreich, die nicht aufs neue System umgestellt haben, siegt Deutschland mit 3:2.
Als die deutsche Mannschaft, von der Gold verlangt wird, bei den Olympischen Spielen 1936 gegen Norwegen im Halbfinale mit 0:2 verliert, im Poststadion in Berlin, in Hitlers Gegenwart, gerät Nerz' Position ins Wanken. Der von Nerz jahrelang protegierte Herberger – sein Assistent – löst ihn ab.
Im Finale der WM 1954 im Berner Wankdorfstadion macht die Mannschaft die Erfahrung, dass nicht immer der Bessere gewinnt. Gegner ist Ungarn. Der Bessere kann verlieren, wenn es regnet, der Gegner Stollen hat, die man raus schrauben kann, und kurz vor Anpfiff auf die längere Variante umsteigt; wenn der gegnerische Trainer mit einem 4-2-4 das taktische Mittel hat, um die Zentrale des Gegners zu lähmen; wenn Ferenc Puskás, nach einem Foul von Werner Liebrich in der Vorrunde, Schmerzen hat, und der Gegner nicht aufgibt. Auch nicht bei 0:2.
Seit 1954 ist der Stil der Nationalmannschaft etwas, was über uns Auskunft gibt. Es ist nicht so, dass die Nationalmannschaft so spielt, wie sie spielt, weil sie deutsch ist, sondern deutsch ist, was sie spielt. Wir sind nicht nur der Fußball, den die Nationalelf spielt, aber wir sind sicher, dass etwas von uns in ihrem Fußball steckt.
Die gleiche Erfahrung wie 1954 beim WM-Finale 1974. Die Niederlande unter Rinus Michels auf der Bank, und Johan Cruyff auf dem Platz, spielen „total football“. Alle stürmen, alle verteidigen, alle können alles. Nur der Torwart ist nicht so gut wie Sepp Maier. Der Bundestrainer heißt Helmut Schön, Herbergers Assistent und seit November 1964 dessen Nachfolger.
Das Spielsystem hat er reformiert. Nur wegen Beckenbauer. Schön sieht ihn als Außenläufer und hält am „W-M“-System fest. Er spielt 4-3-3: Klaus-Dieter Sieloff und Willi Schulz als Vorstopper, Horst Höttges und Karl-Heinz Schnellinger als Außenverteidiger, Beckenbauer und Rudolf Brunnenmeier als Außenläufer, dazwischen Horst Szymaniak, Peter Großer und Werner „Eia“ Krämer als Außenstürmer, in der Mitte: Uwe Seeler. Immer noch englische Schule.
Beckenbauer sucht seine Position. Zuerst ist ein Spieler da, der nicht mehr ins System passt, dann wird von ihm und für ihn ein neues gebaut. In den Jahren nach der WM 1966 gibt es Differenzen zwischen Schön und Beckenbauer. Den Libero gibt es schon, Schulz tritt als solcher auf. Nominell. Bei Bayern München, Trainer ist Zlatko "Čik" Čajkovski, spielt Beckenbauer einen richtigen Libero: freier Mann in der Abwehr, ohne direkten Gegenspieler, bei Schön Außenläufer.
Am 14. Dezember 1968 läuft Beckenbauer zum ersten Mal als Libero auf. Im Maracaña-Stadion gegen Brasilien. Schulz soll Pelé decken, Beckenbauer „Ausputzer“ spielen, aber er spielt Libero: Doppelpässe mit Günter Netzer und Wolfgang Overath, Antreiber, als Deutschland mit 0:2 hinten liegt. Pelé macht mit Schulz was er will. Am Ende ein 2:2. In den folgenden Partien spielt Schulz nominell Libero, faktisch Vorstopper, Beckenbauer Außenläufer.
Bei Bayern organisiert Beckenbauer die Abwehr. Das war bislang unnötig. Verteidiger führen Zweikämpfe, da ist nichts zu organisieren. Doch Ajax Amsterdam kommt im Europapokal mal mit zwei, mit drei, mit vier und mehr Stürmern. Wer Stürmer ist, sagt nicht die Rückennummer oder der Ort, wo der Spieler beim Anpfiff steht. Stürmer sind bei Ajax alle, die stürmen. Also viele.
Daher muss bei Bayern jemand dafür sorgen, dass Mittelfeldspieler hinten aushelfen. Auch den Gegner Abseits stellen, muss organisiert werden. Für Beckenbauer ist Abwehr mehr als zerstören, stoppen, Tore verhindern. Schön trennt das Spielfeld in drei Teile: hinten Kampf, um Tore zu verhindern; in der Mitte spielen; vorne Kampf, um Tore zu erzielen. „Verteidigung ist zerstören, dazu brauche ich keine Künstler, nur Leute mit dem eisernen Fuß, die dazwischen gehen, aufräumen. Warum soll ich Spieler wie dich da hinten verschenken?“, sagt Schön zu Beckenbauer. Also spielt der Außenläufer.
Und droht mit Rücktritt. „Endlich, im März 1971, war der Bundestrainer bereit, mich als Libero einzusetzen. Er war auf dem Rückweg aus dem Urlaub bei mir in München gewesen, wir hatten ein langes Gespräch, in dem ich ihm meine Vorstellung von der Aufgabe des freien Mannes nahe bringen konnte. Am 25. April konnte ich sie im Länderspiel gegen die Türkei realisieren“, sagt Beckenbauer.
Ewiger Libero: Franz Beckenbauer im WM-Finale 1974. Foto Pixathlon
Deutschland spielt 30 Jahre mit Libero, Vorstopper und Manndecker, auch als keiner mehr Libero spielen kann. Längst ist deutlich, dass die Arbeitsteilung, die nur den Libero ausspart, dem deutschen Fußball schadet. Verteidiger können nur das, was Mittelfeldspieler und Stürmer nicht können. Fußballerisch sind die achtziger und neunziger Jahre eine Wüste. Der Abstand zwischen nationalem und internationalem Fußball wächst. Nach der schwachen EM in Portugal tritt Teamchef Rudi Völler 2004 zurück. Er leitet erste Schritte zur Auflösung der Manndeckung ein.
Jürgen Klinsmann wird Bundestrainer, Joachim Löw sein Assistent. Nun spielt Deutschland mit Raumdeckung und offensiv. Zum ersten Mal in seiner Geschichte. Ein Bruch. Die Nationalmannschaft spielt bei der WM 2006 4-4-2: Bei gegnerischem Ballbesitz mit den beiden Sechsern Torsten Frings und Michael Ballack nebeneinander, bei eigenem Ballbesitz rückte Ballack hinter die Spitzen und die Doppelsechs wurde zur Raute. Bei der Europameisterschaft 2008 stellte Löw gegen Portugal auf 4-5-1 um, mit fünf Mittelfeldspielern waren die Schnittstellen für die gegnerischen Vertikalpässe besser zuzustellen. Bei dieser Grundformation blieb es auch bei der WM 2010, genauer 4-2-3-1 bei eigenem, 4-5-1 oder 4-4-1-1 bei gegnerischem Ballbesitz. Zwei defensive Mittelfeldspieler, zwei „Sechser“, im Mittelfeld, der eine, nicht immer der gleiche, darf nach vorne, die Mittelfeldspieler links und rechts müssen die Außenbahnen halten, die Außenverteidiger stehen hoch.
Irgendwann wird auch dieses System am Ende sein, das haben Systeme so an sich. Hätten wir die richtigen Augen, könnten wir es an den jungen Spielern sehen, die nicht mehr ins System passen. Aber wahrscheinlich wird es wieder schwer.
Ein Auszug aus dem Buch „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg" vom Matthias Greulich (Hg.) und Sven Simon. 176 Seiten, 19,90 Euro, Copress Verlag. ISBN 978-3-7679-1048-5
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