EM-SPIELE
Torrekorde, Panenka und Rastalocken
RUND hat 15 legendäre EM-Spiele ausgewählt, Tel 1: 1960 bis 1988. Von Broder-Jürgen Trede.

 Antonin Panenka
Der entscheidende Elfmeter des EM-Endspiels Bundesrepublik gegen CSSR 1976: Antonin Panenka lupft den Ball in die Mitte, Sepp Maier hat keine Chance. Foto Imago

 

6. Juni 1960, Halbfinale: Frankreich - Jugoslawien 4:5 (2:1)
Paris, Parc des Princes, 26.370 Zuschauer
„Mon dieu!“ Das allererste EM-Endrundenspiel ist gleich ein Spektakel und sorgt für einen bis heute gültigen Turnier-Rekord: Keine Partie ist torreicher. Im Prinzenpark hat Gastgeber Frankreich dabei die Eintrittskarte fürs Endspiel vier Tage später an gleicher Stelle eigentlich schon gelöst. Eine Viertelstunde vor Schluss führt die Équipe Tricolore scheinbar komfortabel mit 4:2, um dann binnen fünf Minuten historisch zu vergeigen. Knez (75.) und zweimal Jerkovic (78., 79.) drehen für Jugoslawien mit den sechs späteren Bundesliga-Stars Soskic, Durkovic, Zebec, Jusufi, Perusic und Sekularac das Spiel. „Incroyable, quel malheur!“

  

21. Juni 1964, Finale: Spanien – Sowjetunion 2:1 (1:1)
Madrid, Estadio Santiago Bernabéu, 79.115 Zuschauer
„Olé!“ Ein ganz heißes Spiel mit brisanter (politischer) Vorgeschichte: Vier Jahre zuvor ist „La Furia Roja“ noch auf dem glitschigen Parkett der Diplomatie böse abgegrätscht worden und durfte auf Geheiß von Diktator Franco zum Viertelfinale gegen den späteren Sieger Sowjetunion nicht antreten. Nun gelingt auf dem grünen Rasen die erfolgreiche „Revanche“. Das ganze vor beeindruckender Kulisse: Offiziell etwas mehr als 79.000, inoffiziell fast 125.000 Zuschauer lassen das Bernabéu schon vorm Anpfiff brodeln. Frühe Tore von Pereda (6.) und Chussainow (8.), atemberaubendes Tempo und herrlicher Kombinationsfußball bringen die Partie rasch zum Siedepunkt und mehrfach zum Überkochen. Einsetzender Nieselregen in Hälfte zwei sorgt für Abkühlung und leichtes Simmern, ehe schließlich Marcelinos siegbringender Hechtkopfball gegen „Katze“ Jaschin die ganze Chose im Hexenkessel endgültig explodieren lässt. Vor allem atmosphärisch ist das der Durchbruch für den „Europapokal der Nationen“, den zuvor oft belächelten Wettbewerb, für den beispielsweise der DFB bis hierhin kein Interesse gezeigt und nicht gemeldet hat.
 

18. Juni 1972, Finale: BR Deutschland – Sowjetunion 3:0 (1:0)
Brüssel, Heyselstadion, 43.437 Zuschauer
„Dann macht es bumm, ja und dann kracht’s!“ Dem schneppernden, schnörkellosen Tusch des gnadenlos-effektiven Vollstreckers Gerd Müller geht oft eine große Symphonie voraus. Deutschland spielt „schön“ und zeigt Kombinationsfußball wie nie zuvor und selten danach, orchestriert von Dirigent Günter Netzer, der mit wehender Mähne „aus der Tiefe des Raumes“ kommend den Taktstock schwingt. Uraufführung beim 3:1 über England im legendären EM-Viertelfinale von Wembley. Generalprobe bei der Eröffnung des Münchner Olympiastadions, als das DFB-Ensemble die Sowjetunion mit 4:1 vom Platz fidelt und Müller dabei gleich viermal auf die Pauke haut. Finale furioso nur drei Wochen später bei der EM-Endrunde in Belgien. Wieder sind die Sowjets chancenlos, wieder setzt Müller, unterbrochen durch Hacki Wimmers Intermezzo, die entscheidenden Akkorde.  


17. Juni 1976, Halbfinale: Jugoslawien – BR Deutschland 2:4 n.V. (2:0, 2:2)
Belgrad, Crvena zvezda („Stadion Roter Stern“ bzw. „Marakana“), 50.652 Zuschauer
Es „müllert“ weiter: Die nächste Endrunde, die nächste deutsche Torjäger-Story, diesmal geschrieben von Dieter, dem ein wohl einmaliges Länderspiel-Debüt gelingt. 80. Minute: Einwechslung, 82. Minute: Flanke Bonhof, erster Ballkontakt per Kopfball, Tor zum 2:2, Verlängerung. In der legt der 22-jährige Novize gleich noch zweimal nach (115., 119.) und schießt so Deutschland ins Endspiel.

 

20. Juni 1976, Finale: Tschechoslowakei – BR Deutschland 2:2 n.V. (2:1, 2:2, 2:2), 5:3 i.E.
Belgrad, Crvena zvezda („Stadion Roter Stern“ bzw. „Marakana“), 30.790 Zuschauer
Nur drei Tage später dann das nächste XXL-Drama bei einem unfassbaren spannenden Turnier, dessen vier Endrundenspiele allesamt in die Verlängerung gehen. Das Finale sogar in die Verlängerung der Verlängerung: das bis dahin kaum geläufige Elfmeterschießen. Kurios: Erst unmittelbar vor Spielbeginn verständigen sich die Verbände mit der UEFA auf diese Möglichkeit der Entscheidungsfindung, denn eigentlich ist im Falle eines Remis ein Wiederholungsspiel zwei Tage später vorgesehen. Lange sieht es nicht so aus, als ob das alles nötig wäre, doch Deutschland erzwingt wieder nach 0:2-Rückstand den Nachschlag. Diesmal in buchstäblich letzter Sekunde durch Bernd Hölzenbeins Kopfball. In den 30 Extra-Minuten passiert nichts Denkwürdiges, dafür aber im finalen Showdown: ewige Lektionen für die Fußballfibel, Kapitel „Wie schieße ich richtig Elfmeter – und wie besser nicht?“ Die ersten sieben Schützen treffen, dann kommt Uli Hoeneß: Vollspann, zu viel Rücklage – die schwarz-weiße Lederkugel fliegt in den hiernach vielzitierten „Belgrader Nachthimmel“. Böse Zungen behaupten, den Ball würde man noch immer suchen, vielleicht kreist er seither auch auf irgendeiner Umlaufbahn im Kosmos. Als nächster Schütze chippt Antonin Paneka den Ball frech gegen den sich ins Eck werfenden deutschen Schlussmann mitten ins deutsche Tor und Fußballherz. Wäre Sepp Maier stehengeblieben, hätte er den Ball wohl locker gefangen. Und noch ein bitterer Konjunktiv: Hätte Bundestrainer Helmut Schön – im Halbfinale mit dem Müller-Einsatz noch ein echter „Goldfinger“ – sein Wechselkontinent nicht erschöpft, hätte er mit Rudi Kargus den besten Elferkiller aller Zeiten bringen können. Zu Maiers Kernkompetenzen zählt das 1:1-Duell vom Punkt hingegen erkennbar nicht …

 

22. Juni 1980, Finale: BR Deutschland – Belgien 2:1 (1:0)
Rom, Stadio Olimpico, 47.860 Zuschauer
Die erste EM-Endrunde, die die Bezeichnung „Turnier“ verdient, wenn auch mit seltsamem Modus. Nach drei Spielen bestreiten die Sieger der beiden Vorrundengruppen direkt das Finale. Es ist die beste Partie einer ansonsten spielerisch und atmosphärisch eher enttäuschenden Endrunde. Deutschland ist im Glück: Bundestrainer Derwall zögert, den noch torlosen HSV-Mittelstürmer Horst Hrubesch, ohnehin nur in den EM-Kader gerutscht, weil sich Klaus Fischer verletzt hatte, einzusetzen, tut es schließlich aber doch. Der Spieler zahlt das Vertrauen zurück. Mit zuvor im Petersdom eingeholtem päpstlichem Segen von Johannes Paul II. beschert er der DFB-Auswahl mit seinen ersten beiden Länderspieltoren den zweiten EM-Titel. Erst früh (10.) mit einem strammen Rechtsschuss, dann spät (88.) in typischer Manier per wuchtigem Kopfball. Das Hamburger Abendblatt titelt stolz: „Ungeheuer, dieser Hrubesch!“

 Horst Hrubesch mit EM-Pokal
Horst Hrubesch mit EM-Pokal, rechts neben ihm staunt Vorlagengeber Manfred Kaltz. Foto: Pixathlon

 

23. Juni 1984, Halbfinale: Frankreich - Portugal 3:2 n.V. (1:0, 1:1)
Marseille, Stade Vélodrome, 54.848 Zuschauer
Dramatik pur bei flirrender Mittelmeerhitze und leicht kühlem Mistral. Permanent angreifende Franzosen, clever konternde Portugiesen. Abgesehen von der Halbzeit und der kurzen Unterbrechung nach Ablauf der regulären 90 Minuten quasi ein Spiel ohne Atempausen, bei dem beide Teams den enormen läuferischen Aufwand bis zum Schluss durchhalten. Erst führt Frankreich, dann, in der Verlängerung, plötzlich Portugal. Linksverteidiger (!) Domerque und Mittelstürmer Rui Jordão treffen jeweils doppelt. Das Siegtor ist dem bei diesem Turnier allesüberragenden Akteur vorbehalten: Nach mitreißendem Slalomlauf von Jean Tigana mustergültig bedient schießt Michel Platini ein (119.). Es ist sein achter von insgesamt neun Turniertreffern. Ein Rekord, der erst 2021 von Cristiano Ronaldo gebrochen wird, der dafür allerdings fünf Endrunden benötigt.

 

24. Juni 1984, Halbfinale: Spanien - Dänemark 1:1 n.V. (1:0, 1:1, 1:1), 5:4 i.E.
Lyon, Stade de Gerland, 47.860 Zuschauer
Auch das zweite Halbfinale von 1984 bleibt als Thriller im Gedächtnis. Vor allem wegen der Kicker aus dem Norden des Kontinents. „Vi er røde, vi er hvide. Vi står sammen, side om side“ („Wir sind rot, wir sind weiß. Wir halten zusammen, Seite an Seite.“), intonieren die Kicker durchaus gekonnt den Hit dieses Sommers, der zum bis heute ohrwurmtauglichen Evergreen avanciert. Das „Danish Dynamite“ zündet: frischer Offensivstil, lockeres Auftreten, lustige Fans. Es fällt schwer, diese Mannschaft nicht zu lieben. Dänemarks Coach erklärt die drangvollen Vorstellungen seiner Spieler augenzwinkernd: „Wir können nicht verteidigen.“ Damit meint Sepp Piontek weniger, dass er über keine starken Abwehrkräfte im Kader verfügt, sondern dass seine Spieler weder die Lust noch die Geduld haben, dem Gegner freiwillig Initiative, Spielraum und Ballbesitz zu überlassen. Doch auch die Spanier treten in Lyon das Gaspedal ohne Rücksicht auf Verluste voll durch. Die Folge: ein offener Schlagabtausch mit Chancen im Minutentakt, doch nur die Versuche von Søren Lerby (7.) und Deutschland-Schreck Antonio Maceda (68.) finden den Weg ins Netz. Entscheiden muss so das Elfmeterschießen, in dem Preben Elkjær Larsen als einziger Fehlschütze zur tragischen Figur wird. Beim Gang zum Punkt spürt der Stürmer „einen schier schmerzhaften, tonnenschweren Druck auf meiner Brust, sonst nichts“ und jagt den Ball mit zerrissener Buxe und reichlich Schmackes übers Tor von Luis Arconada. „Berlings Tidene“ jubelt trotzdem: „Das Fest ist vorbei. Niemals zuvor haben Sportler so große Reklame für das kleine Dänemark gemacht.“ Und das „Extrabladet“ prophezeit: „Danke und auf Wiedersehen. Wir kommen wieder!“


27. Juni 1988, Finale: Niederlande – Sowjetunion 2:0 (1:0)
München, Olympiastadion, 62.770 Zuschauer
Teil 2 der großen Trauma-Bewältigung. Sechs Tage nachdem die Elftal Gastgeber und Erzfeind Deutschland in Hamburg prestigeträchtig und in letzter Minute aus dem Wettbewerb gekegelt hat, folgt weiterer Balsam für die niederländische Fußballseele. 14 Jahre zuvor war man noch im WM-Endspiel an gleicher Stelle in Schönheit gestorben und auch ein bisschen an der eigenen Arroganz gescheitert. Doch nun ist Oranje endlich „boven“. Zwei Traumtore bescheren den Titel: Erst Ruud Gullits wuchtiger Lehrbuch-Kopfball, bei dem die Rasta-Locken ikonisch fliegen (33.), dann Marco van Bastens Verarbeitung eines 40-Meter-Diagonalballs – volley ins linke Kreuzeck (54.) – ein physikalisches wie ballistisches Jahrhundertereignis, wunderschöner Ausdruck des im Turnierverlauf stetig gewachsenen Selbstvertrauens des Mittelstürmers. „Moi!“ „Einfach nur schön!“ Das findet auch Rinus Michels, schon 1974 der Bondscoach, und erklärt: „Endlich werde ich nicht mehr mit der Vergangenheit konfrontiert.“

 

Lesen Sie Teil 2 der legendärsten EM-Spiele von 1992 bis 2021

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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