FUNDSTÜCK

Endspiel für die Ohren

Eine heute fast absurd anmutende Vorstellung: Das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 1960 zwischen dem 1. FC Köln und dem HSV wurde auf Vinyl gepresst. Der große Radiokommentator Kurt Brumme die Höhepunkte der Begegnung. Von Rainer Schäfer

 

Schallplatte

Das Runde mit Loch fürs Ohr:
Reporterfußball von 1960 Foto Benne Ochs


Der Tonarm des Schallplattenspielers senkt sich auf die Rillen der Single, es knistert, die Anspannung wächst, auch bei Radiokommentator Kurt Brumme, der das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft am 25. Juni 1960 zwischen dem 1. FC Köln und dem Hamburger Sportverein vor 70.000 Zuschauer im Frankfurter Waldstadion reportiert. Die Bundesliga war noch nicht erfunden, der Deutsche Fußballmeister wurde nicht anhand der Tabelle ermittelt, sondern die acht besten Mannschaften spielten in zwei Gruppen gegeneinander, die Gruppenersten zogen ins Finale.

„Fußballtaumel in Nord und West“, legt Kurt Brumme mit seiner sonoren Stimme los und findet mit einer Selbstverständlichkeit in seine Aufgabe, als sich die Spieler im Waldstadion noch darum bemühen, die ihnen zugedachten Rollen auszufüllen. Es ist heiß in Frankfurt, Brummes Anmoderation klingt wie ein Versprechen auf einen ganz besonderen Nachmittag.

Ob Fußball früher besser war? Eines steht fest: Fußball war ganz anders. Die Torhüter trugen noch Schiebermützen, Schiedsrichter Josef Kandlbinder aus Regensburg hatte seine aufregendsten Szenen beim An- und Abpfiff der Begegnung, ansonsten musste er selten in Erscheinung treten. Die Schallplatte muss in den vergangenen 45 Jahren sehr häufig gehört worden sein, an mancher Stelle verliert Brummes Stimme hinter heftigem Knistern und Rauschen an Deutlichkeit.

Aber jetzt ganz klar, ganz nah: „Schnellinger auf Rahn“, Brumme steigert das Erzähltempo und hebt etwas die Stimme, „aber der verzieht knapp. Die erste gute Gelegenheit, das Spiel früh auf 1:0 zu stellen.“ Kurt Brumme, Jahrgang 1923, gilt als Vater der Konferenzschaltung im Fußball, über 40 Jahre prägte der Kölner die Hörfunkberichterstattung im WDR. Seine Stimme gehörte wie selbstverständlich zu einem gut verlaufenden Samstagnachmittag. Von 1963 an bis in die späten 80er Jahre brachte sie die Bundesliga in die Wohnzimmer.

Der Rheinländer Brumme kennt sie alle, die im Kampf um die Meistertrophäe namens Victoria auf dem Platz stehen: den eigenwilligen Helmut Rahn, den emsigen Jupp Röhrig, Linksaußen Karl-Heinz Thielen, den Gymnasiasten aus Köln, die Piechowiaks, Meinkes und Seelers aus Hamburg, die „fast englisch spielen, ganz nüchtern, ganz gelassen, mit weiten Bällen“.

Es ist die Kunst mit wenigen, aber treffenden Worten zum richtigen Zeitpunkt viel zu erzählen, die Brumme beherrscht. Er ist keiner der Wortschwindler und Verbalhasadeure, die sich heute häufig um die Mikrofone versammeln. Kurt Brumme kennt keine Künstlichkeit, keine inszenierte Hysterie und gewollte Begeisterung, sein erzählter Fußball kommt echt und direkt daher, mit einer Intensität, die weh tun kann: „Schnellinger mit Steilpass auf Schäfer, aber Werner und Meinke werfen sich auf den Fuß des angreifenden Kapitäns.“ Manchmal fällt Brumme ins Klischee, bemerkt es rechtzeitig und schafft ein sprachliches Bild, das man noch nicht von ihm gehört hat.

Zur Halbzeit steht es 0:0 in der „Sonnenschlacht um die Deutsche Fußballmeisterschaft 1960, mit Vorteilen für Köln“. Als Schiedsrichter Kandlbinder die zweite Halbzeit anpfeift, wissen die Spieler und der Kommentator noch nicht, dass sie ihnen alles abverlangen wird.

Kurt Brumme wollte in seinen Reportagen mit „seinen Worten Bilder erzeugen“, er machte das oft so virtuos, dass dabei vor den Augen der Zuhörer kurze Filme entstanden. „Ecke Dörfel. Seeler springt hoch, wie von einer Sehne geschnellt. Aber hoch heraus wie ein fliegender Fisch ist Fritz Ewert da und greift den Ball sicher aus dem Getümmel herunter.“ Dann gelingt Christian Breuer, dem Halbstürmer des 1. FC Köln, das erste Tor, aber „der HSV packt sofort zu, als sich die Gelegenheit ergibt, Uwe Seeler drückt den Ball im Gegenzug an dem wie versteinert dastehenden Ewert vorbei neben den Pfosten“. Der Ausgleich nach „zwei Schlägen, wie man sie in einem Endspiel selten findet“.

Brumme versteht das Spiel, er sieht, wie sich die Kölner Offensive in der Hitze immer schwerer tut und die „Abwehr die ganze Last des Spieles tragen muss“. Zu lange tragen muss, ohne Entlastung, Gert Dörfel schafft in der 80 Minute das 2:1 für den HSV. Begeisterung in Frankfurt, Ausgelassenheit und Glockengeläute auf den prall gefüllten Zuschauerrängen, zunehmende Erschöpfung bei den Spielern: „Langsam wird die Frage akut: Wer hat die bessere Kondition, wer wird in dieser Sonnenschlacht am besten durchstehen können? Das sind alles Dinge, die psychologisch bewertet werden wollen.“

In den letzten Spielminuten geht es turbulent zu in Frankfurt, Kurt Brumme weiß, dass er jetzt alle dramaturgischen Mittel einsetzen muss, über die er verfügt. Er zieht das Erzähltempo an, die Sätze werden kürzer und schnell herausgepresst, Brumme redet sich in Rage, als Kölns Mittelstürmer Christian Müller den weißen Ball unter die Querlatte schießt, 2:2, wenige Minuten bevor Schiedsrichter Kandlbinder abpfeifen wird. „Die Tore“, ruft Brumme laut in sein Mikrofon, „sind jetzt offen für Köln, die Tore sind offen für den HSV“.

Es ist Horst Dehn, der Brummes Worte gehört haben muss und einen Freistoß von Dörfel
ins Tor schlenzt, vorbei am verdutzten Fritz Ewert, dem „fliegenden Fisch“, 3:2 für den HSV. Das muss die Meisterschaft sein. Kurt Brumme hat alles im Griff, er weiß, dass die Zuhörer an seiner Stimme kleben. Dann schaut Josef Kandlbinder auf die Uhr, und es ist Schluss in einem Spiel, das es verdiente auf Vinyl gepresst und immer wieder gehört zu werden. Es knistert noch mal, als die Nadel in die Auslaufrille rutscht, nach 16 Minuten und 16 Sekunden. Kurt Brumme starb im Mai 2005 mit 82 Jahren in seiner Lieblingssportbar an einem Herzinfarkt. Seine Stimme klingt auf Vinyl sehr vertraut und gegenwärtig.

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