INTERVIEW
„Wir wollten das Bild von Deutschland ändern“
Zum Tod von Uwe Seeler. Er war in der Nazizeit aufgewachsen und wurde zum Idol im Nachriegsdeutschland. Uwe Seeler war ein Zeuge der Geschichte. Uwe über die Bombennächte in Hamburg und sein Verhältnis zu Sepp Herberger. Interview Ali Farhat und Rico Rizzitelli.

 

Uwe SeelerUwes erste WM: Deutsche Fans feiern ihr Idol beim Weltturnier in Schweden
Foto Pixathlon

 

Herr Seeler, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit im Hamburg-Eppendorf der 1940er-Jahre?
Uwe Seeler: Es gab Bombenangriffe, das Trommelfeuer der Alliierten ... Wir haben nicht verstanden, was während der Alarme passierte. Wir wussten nur, dass wir uns verstecken sollten. Wir hatten Angst, aber wir hatten keine Ahnung wieviel Angst wir eigentlich haben sollten. Man kann solche Momente aus seinem Leben nie löschen. Wir haben viel Zeit in unserem Keller, unserem Bunker verbracht. Um den wurde alles zerstört. In diesen Trümmern haben wir angefangen, Fußball zu spielen.

Womit haben Sie gespielt?
Uwe Seeler: Mit dem Kopfsteinplaster aus den Trümmern. Gott sei Dank war mein Vater selbst Fußballer beim HSV, und ab und zu brachte er einen einfachen Ball mit. Es war ein Ball mit einer Blase, den man pflegen musste. Relativ primitiv, aber wir hatten wenigstens ein Ding, mit dem wir spielen könnten. Wenn meine Schuhe kaputt waren, nahm ich die von meiner Schwester. Ich machte das heimlich, sonst hätten mich meine Eltern bestraft. Und es gab nichts Schlimmeres als seine Freunde aus dem Fenster spielen zu sehen, weil man bestraft wurde.

Stimmt es, dass Ihr Vater öfter Essen vom HSV mitbrachte?
Uwe Seeler: Ja. Mein Bruder Dieter und ich brachten ein- bis zweimal pro Woche vom Klubhaus ein Kochgeschirr mit Essen nach Hause. Im Prinzip war es für meinen Vater, die Fußballer sollten nämlich etwas Kräftiges essen, mit guten Zutaten. Wir aßen aber alle davon. Meine Mutter hat uns mit ihrem Essen beeindruckt: Wir hatten nicht viel zu Hause, aber sie hat immer sensationell gekocht.

Und der Krieg?
Uwe Seeler: Mein Vater war immer gegen die Nazis gewesen. Als die Nazis meinen Bruder und mich für das Deutsche Jungvolk anwerben wollten, hat er abgelehnt. Es war eine sehr gefährliche Zeit. Er hat gesagt, dass wir in gar keinem Fall nach Berlin fahren werden, um die Stadt zu verteidigen. Als die Nazis zurückkamen, hat er sie rausgeschmissen. Wir haben Glück gehabt, dass sie ihn nicht mitgenommen haben. Die Nachbarn sagten: „Vater Seeler wird Probleme bekommen“. Meinem Vater war das egal: Die Hauptsache war für ihn, dass er seine Kinder nicht hergegeben hat.

Wie haben Sie das Ende des Krieges erlebt?
Uwe Seeler: Als die Amis kamen, haben wir verstanden, dass es endlich ruhig wird. Wir, die Kinder, kannten nur ein Teil der Geschichte. Der Rest war für uns unbewusst.

Wenn man älter wird, bemerkt man mehr, dass ...
Uwe Seeler: (er unterbricht) ... Mit der Zeit haben wir mitbekommen, was Hitler tatsächlich gemacht hatte. Als ich Kind war, wusste ich nichts davon. In dieser Zeit hatte man uns anders „verkauft“. Das ist genau wie heute in Lybien: man kann sich nicht vorstellen, dass man auf sein eigenes Volk schießen wird. Auch meine Eltern ignorierten, was wirklich geschehen war.

Wie haben Sie denn reagiert, als Sie anfingen zu verstehen?
Uwe Seeler: Nach diesem ganzen Wahnsinn haben wir versucht, nach vorne zu gehen. Ich habe sehr früh angefangen, an internationalen Turnieren teilzunehmen. In den 1950er Jahren, als wir mit der Nationalmannschaft auswärts spielten, war die Umgebung uns feindlich gesinnt. Wir schämten uns, meine Kollegen und ich, und mehr als das, eigentlich. Wir haben miteinander gesprochen, wir haben uns gefragt, wie wir uns verhalten sollten. Wir wollten zeigen, daß wir nicht so waren, wir wollten dieses Bild vom „Deutschen“ brechen, das die Leute von uns hatten. Bescheidenheit, Diskretion, das war alles was wir hatten. Ich denke, wir haben es richtig gemacht. Dann gab es das Finale von 1954, als das Spiel gedreht wurde. Ich war im Stadion während des Gruppenspiels; gegen Ungarn, das wir 3:8 verloren hatten. Da wir keinen Fernseher zu Hause hatten, habe ich das Finale bei einem Freund gesehen, mit sechs oder sieben anderen Jungs vom HSV: am Schlusspfiff haben wir richtig gefeiert! Dieser Sieg hat zu der Erneuerung des deutschen Sports beigetragen. Sie hat uns erlaubt, in den Vordergrund zurückzukommen. Im ganzen Land gab es eine Aufbruchstimmung. Diese WM 1954 hat den Deutschen erlaubt, wieder Selbstvertrauen zu haben. Wir dachten, wenn wir genug daran arbeiten, dann werden wir es schaffen. Deutschland sollte unbedingt sein Bild ändern. Schluss mit diesen Kriegsgeschichten: Die neue Generation würde eine ganz andere Generation sein.

Es lastet ein schweren Verdacht auf dieser deutschen Mannschaft. Einige Wochen nach der WM gab es eine Gelbsucht-Epidemie ...
Uwe Seeler: Heute noch können wir das nicht erklären. Man vermutet, dass es zwei Ärzte gab, einer vor allem, der die Spieler mit Mikrofilamente gespritzt hatte. Aber wir reden nicht über Doping. Es war eine Mischung mit Glukose, oder was weiß ich ...

Ferenc Puskas, der das Finale mit Ungarn gespielt hat, hat die Deutschen angeklagt, sich gedopt zu haben. Danach hat er seine Aussage widerrufen ...
Uwe Seeler: Obwohl ich ein gutes Verhältnis zu ihm habe, kann ich solche Aussage einfach nicht akzeptieren. Aber wenn ich die Gebirgspässe sehe, die sie während dem Tour de France überklettern ...

Im Herbst 1954 spielten Sie zum ersten Mal für die deutsche Nationalmannschaft. Sie waren 17, und wurden nach 20 Minuten für einen verletzten Spieler eingewechselt.
Uwe Seeler: Sepp Herberger hatte mich schon bei einem internationalen Fifa-Turnier spielen sehen. In diesem Turnier hatte ich 13 Tore erzielt. Er wollte mich zur WM mitnehmen, aber in dieser Zeit sollte man drei Monate früher seine Spielerliste abgeben. Schließlich hat er mich nach der WM berufen, für ein Spiel gegen Frankreich in Hannover. Herberger war phänomenal. Er hatte kein einfaches Leben, nach der Kriegszeit sollte er seine Mannschaft vom Anfang an wiederaufbauen. Er ist durch das ganze Land gereist, hat eine Menge Spieler von allen Regionalligen gesichtet. Er war früh dran, im Vergleich zu seiner Zeit: für ihn sollte der Ball sich viel schneller als die Spieler bewegen. Schnell spielen, einfach spielen, sauber spielen. Wenn niemand sich bewegt, geht das einfach nicht. Spanien spielt heute mit dieser Art und Weise, und in fünfzig Jahren wird man immer so spielen.

Vier Jahre später spielen Sie 1958 Ihre erste von vier WM. Was für Erinnerungen von dieser Epoche haben Sie?
Uwe Seeler: Ich habe meinen Platz als Stammspieler einige Wochen vor dem Turnier gewonnen. Mit Karl-Schnellinger waren wir die jüngsten von der Mannschaft. Wir wurden von den Helden von 1954 gut empfangen, wie Helmut „Boss“ Rahn, Fritz Walter oder noch Horst Eckel. Für uns war es schon ein Abenteuer in sich, dort zu sein. Eine WM in dieser Zeit ist gar nicht mit heute vergleichbar: wir waren nicht Profis, wir sollten nebenbei arbeiten, um unseren Familien zu unterhalten.

Was noch?
Uwe Seeler: In der Regionalliga haben wir höchstens 320 Mark pro Monat verdient. Mehr nicht. Die Bundesliga hat erst 1963 angefangen, und wir könnten nur 1200 Mark pro Monat verdienen, mit der Zustimmung des Verbands. Damit hätte ich mich gar keine Wohnung zahlen können, hier, in Hamburg. Denn habe ich einen Vertrag mit dem HSV unterschrieben, aber nur, weil ich ihnen gesagt hatte, dass ich einigen Tagen nicht trainieren werde, damit ich nebenbei arbeite könnte. Es hat geklappt. Neben meiner ganzen Profi-Karriere habe ich für Adidas gearbeitet. Ich fuhr mehr als 50 bis 60 000 Kilometer pro Jahr, durch die Gebiete Hamburgs und Niedersachsen.

Sie hatten aber die Möglichkeit, im Ausland zu spielen, anstatt hier gleichzeitig zu spielen und arbeiten ...
Uwe Seeler: Die einzige Mannschaft, mit der ich gesprochen habe, war Inter Mailand. Helenio Herrera wollte mich unbedingt haben. Das Angebot war toll, im Ernst (ein Dreijahresvertrag von 1,5 Million Mark, dazu Prämiengeld von 1 Million Mark in bar, in einem Koffer das Herrera persönlich vorbei gebracht hatte, dazu eine Villa und ein Auto, Anmerkung d.R.), aber nach drei Tagen habe ich mich dafür entschieden, hier zu bleiben und meinen Job bei Adidas zu behalten. Man hat mich öfter gefragt, warum ich so viel Geld abgelehnt habe. Das Antwort ist einfach: ich komme aus einer ganz einfachen Familie, und das Geld hat mich nie verrückt gemacht.

Sie als HSV-Idol, wie ist Ihre Beziehung zum FC St. Pauli?
Uwe Seeler: Es war die eine gegen die andere Straße. In Hamburg, wenn man einen Spieler hatte, der aus einem anderen Stadtteil oder eine andere Stadt kam, war er unser Ausländer. Diese Rivalität hat für mich in der Kindheit angefangen, es war so, es wird immer so sein. Eigentlich bin ich wahrscheinlich der einzige HSV-Spieler der bei Pauli-Fans gern gesehen ist: „Du, kannste kommen. Auf die anderen hat man keinen Bock“ (er lacht). Ich bin immer sehr mit den ehemaligen Spielern von Pauli verbunden. Es war eine Schlacht auf dem Feld, aber am Ende gingen wir zusammen Bier trinken.

Lesen Sie morgen im zweiten Teil des RUND-Interviews, was Uwe Seeler bei seinen vier Weltmeisterschaften erlebt hat.

 

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